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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Gaby.
    »Das war mal unser Teetisch. Wir werden an einen Ort jenseits der Zivilisation reisen.« Leonoras Augen glänzen. »Wir fahren nach England!«
    Beim Packen erzählt die Mutter ihren Söhnen, dass sie die Truhe in New York gekauft hat.
    »Die sieht aus wie ein Kleiderschrank«, meint Pablo.
    Mit einem Papier ausgeschlagen, das Max Ernst gefallen würde, ist sie groß genug, um darin Leinwände von über einem Meter, Farben und sogar eine kleine Staffelei zu verstauen, außerdem zwei Schirme, die in England teurer sind, einen Spazierstock, einen Schraubenzieher, Hammer und Nägel, Kordeln, Stoffreste zum Flicken zerrissener Hosen und einen Wecker, den nur die Engländer reparieren können. Leonora packt warme Sachen ein, denn das Wetter in ihrer Heimat ist unberechenbar, dort braucht man den Himmel nur schief anzugucken, und schon verfinstert er sich.
    Sie reisen mit der Bahn. Chiki, mit Baskenmütze auf dem Kopf, begleitet sie zum Bahnhof Buenavista und winkt ihnen vom Bahnsteig aus hinterher, die Augen noch stärker gerötet als sonst.
    »Tschüss, Pa’, tschüss. Wann kommst du mal mit?«
    »Seid still, die schwere Truhe ist Last genug«, brummt Leonora.
    »Aber er tut mir leid, so allein«, erwidert Pablo.
    »Er ist nicht allein, er geht jeden Tag zu Kati.«
    In Saint Louis, Missouri, steigen sie um und nehmen den Zug nach New York. Eine lange Reise liegt vor ihnen, doch das kümmert sie nicht, Leonora ist eine wunderbare Geschichtenerzählerin, und so erfahren sie, wie Alice Karten spielt, lernen die Insel der Liliputaner kennen, das Land von Brobdingnag, wo alles riesengroß ist, hören von Gullivers Angst vor Mäusen und Mücken, von der Frau des Obstverkäufers, die sich in eine Kletterpflanze verwandelt, von der Königin, die vor lauter Hitze verrückt wird, von Leonoraswundervollem Pferd Tartar und Onkel Sam Carrington, der bei Vollmond unaufhörlich lachen muss. Die ›Cabin class‹ ist die beste, dort zu schlafen, ein Luxus. »Schau mal, ich passe kaum ins Klo«, stellt Pablo staunend fest.
    Die Queen Elizabeth hat ein weitläufiges Deck, und aufs Meer zu schauen ist ein Genuss. Sich über die Reling zu lehnen und zu beobachten, wie das Wasser gegen die Schiffsflanke peitscht, erlaubt Leonora ihren Söhnen nur, wenn sie dabei ist.
    Sie denkt zurück an ihre erste Reise nach Amerika. Morgens hat sie sich von Renatos Körper gelöst und ist an Deck gegangen, um über ihre Zukunft nachzudenken und sich zu fragen, ob es womöglich falsch war, ins Unbekannte aufzubrechen.
    Einmal trifft sie Gaby in der Morgendämmerung an Deck an, die Ellbogen auf die Reling gestützt, den Blick fest auf den Horizont gerichtet. ›Wie ähnlich ist mir doch mein Sohn‹, denkt sie. Mit seinem wehenden Haar gleicht Gabriel Weisz einer Galionsfigur.
    »Ich habe noch nie einen Sonnenaufgang erlebt«, sagt Gaby, als sie sich neben ihn stellt. »Was magst du lieber, Ma’, die Morgen- oder die Abenddämmerung?«
    »Die Morgendämmerung, das ist der Anfang der Welt.«
    Pablo schläft, während Leonora mit ihrem Ältesten an Deck steht. Renatos Prophezeiung kommt ihr in den Sinn, damals, vor zehn Jahren: »Du wirst die neue Welt sehen.« »Gleich tauchen die Sirenen auf«, hat sie erwidert.
    Im Hafen von Calais legen sie an und setzen auf einem anderen Schiff nach Southampton über, wo Großmutter Maurie sie abholen und nach Hazelwood bringen lässt.
    Die symmetrischen Gärten von Hazelwood Hall stammen aus der Feder des Landschaftsarchitekten Thomas Mawson, der auch den Park des Friedenspalastes in Den Haag entworfen hat. Die Kinder erkunden Haus und Garten. Ganz in der Nähe rauscht das Meer, und bei der erstbesten Gelegenheit laufen sie an den Strand, um ins eisige Wasser zu springen.
    In Mexiko herrscht ein wundervolles Klima. Hier in England müssen sie sich warm anziehen, um nach draußen zu gehen, und sich hinterher in der Eingangshalle des Hauses wie Zwiebeln schälen. Sie vermissen die Wärme und den wolkenlosen mexikanischen Himmel.
    Die Großmutter ist in ihrem Denken fast so frei geworden wie ihre einzige Tochter. Offen äußert sie ihre Gefühle und sagt ohne Umschweife, ob ihr etwas behagt oder nicht. Von ihr hat Leonora diese direkte, typisch irische Art geerbt.
    Das Herrenhaus von Hazelwood Hall mit seinem zum Garten gelegenen Balkon zieht die Enkel in seinen Bann: die riesige Treppe, der Marmorboden, die mittelalterliche Ritterrüstung, in der, so glauben sie, Harold Carrington sich versteckt, und das

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