Frau des Windes - Roman
komplizierte Barometer, das sie in Alices Wunderland versetzt. Selbst wenn Maurie sie zur Teestunde ruft, begleitet sie die Grinsekatze. Drei große Bögen im Erdgeschoss des Hauses entfachen ihre Neugier, weil sie so düster sind und vielleicht in die Hölle führen. »Ma’, sind das die Bögen, die du auf deinen Bildern malst?«
Rasch wird Gaby und Pablo klar, dass hier bei ihrer Großmutter jeder seinen Bereich hat und Kinder sich nicht in Erwachsenengespräche einmischen dürfen. Die alte Nanny, die einst Leonora betreut hat und dieser trotz ihres abweisenden Verhaltens in Santander nicht böse ist, erzählt wie früher ihre Geschichten:
»Gerrid Gwenn ging in den Wald und wählte den Nussbaum, den lebendigsten aller Bäume, denn in seiner Krone saßen viele Vögel. In den Schatten des Baumes stellte er den magischen Kessel. Geduldig gab er acht Tropfen Verstand hinein, vier Rosenblätter, zwei Tropfen guten Rat und einen Schmetterlingsflügel, eine Prise Mitgefühl, drei Spritzer Wissen, fünf Kometenspuren und zwei Teelöffel Stärkemehl, dann brachte er alles zum Kochen und rührte, rührte, rührte, rührte …«
»Weiter, Nanny! Was ist dann passiert?«, ruft Pablo ungeduldig.
»Ein Jahr und einen Tag lang ließ er das Feuer unter dem Kessel brennen. Dann gab er vier Jasminblüten hinein. Schließlich entnahm er dem Kessel einige Zaubertropfen und füllte sie in ein Fläschchen. Als er von dem Gebräu kostete, tat es sofort seine Wirkung: Er entdeckte das Geheimnis der Weisheit, und von diesem Augenblick an war er ein glücklicher Mensch.«
»Das Fläschchen hätte ich gerne, Nanny, dann brauche ich nicht mehr zur Schule zu gehen«, ruft Pablo.
»Du musst es suchen, Gwenn hat es nämlich hier in Hazelwood versteckt. Aber das machen wir am besten morgen, jetzt ist Teestunde«, antwortet Nanny.
Pat und Gerard besuchen ihre Neffen, die den weiten Weg über den Ozean gekommen sind. Pat finden die Kinder langweilig, Gerard aber liest ihnen eigene Gedichte vor und lacht die ganze Zeit.
Leonora schreibt an James, der ihr aus Paris antwortet: ›In Kürze breche ich nach New York auf, wir sehen uns dann in Mexiko.‹
Nach dem Tee gehen sie spazieren. »In Hazelwood gibt es viele Feen«, sagt Leonora und erklärt den Kindern, dass ihre geliebten Sidhe nichts mit Andersens Märchen zu tun haben.
»Die tausendjährigen Feen sind wilder als die Geister aus Chapultepec. In euren Adern, Gaby, fließt keltisches Blut.«
Ihre Söhne laufen vor ihr her. Am Ende des Deichs entdecken sie eine rote Kugel, die ihnen entgegenblickt, und fragen Leonora, wer das sei. Es ist die untergehende Sonne. Als Leonora sie am Horizont versinken sieht, weiß sie auf einmal, dass sie einen Fehler gemacht hat. ›Was soll ich in Mexiko? Ich gehöre hierher.‹ Grenzenlose Traurigkeit erfüllt sie.
»Ma’, morgen fahren wir nach Paris.«
Die Enttäuschung
In Paris, in der Rue Fontaine, empfängt André Breton sie mit bangem Blick. Ungeniert fassen Gaby und Pablo seine afrikanischen Trommeln an und setzen sich seine Masken auf. »So war Aube nie. Deine Söhne sind zwei Wilde.« Bretons neue Frau, die Chilenin Elisa Claro, zieht sich zurück. »Ich kann mich nicht um euch kümmern«, sagt sie, »ich sitze gerade an einem Gedicht.«
Alles hat sich verändert. Jacqueline Lamba und ihre Tochter sind in New York geblieben. Breton hat wieder geheiratet, Jacqueline ebenfalls. Leonoras Freunde blicken dem Ende entgegen, sie sind alt geworden. Auch Duchamp hat sich mit seinen Läufern, seiner Königin und seinen Türmen jenseits des Atlantiks niedergelassen. Man Ray und Max Ernst haben eine Doppelhochzeit gefeiert, Ray mit Juliet Browner, Ernst mit Dorothea Tanning. Lee Miller, mittlerweile von Roland Penrose getrennt, lebt mit dem gemeinsamen Sohn in Sussex.
Breton wundert sich, dass Leonora so wenig mit Diego und Frida zu tun hat und auch Victor Serge und Laurette Séjourné nur selten sieht. Serge habe etwas über ihre Bilder geschrieben, sagt sie, ebenso Gustav Regler. »Das war sehr gut für mich.« Sie erzählt, dass Ausländer es seit der Ermordung Trotzkis nicht leicht hätten. Das Innenministerium sei strenger geworden, Mexiko nicht mehr das, was es einmal war. Es sei jetzt schwierig, eine Aufenthaltsverlängerung zu bekommen, in den Straßen seien die Bäume verschwunden, am Hang des Popocatépetl würden die Wälder gerodet, die Stadt überziehe sich mit hässlichem Zement, und Baumaschinen aus den Vereinigten Staaten rissen
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