Frau des Windes - Roman
Er war der Erste, der vor zwanzig Jahren Akademiker, Traditionalisten und prominente Persönlichkeiten attackiert hat. Maurice Barrès hat er so übel beschimpft, dass nicht nur die Konformisten, sondern sogar die Dadaisten gekränkt reagierten. Bei der Beerdigung von Anatole France haben Péret und seine Freunde ein von Louis Aragon verfasstes Pamphlet verteilt, auf dem die Trauergäste aufgefordert wurden, die Leiche zu ohrfeigen. Die Presse nannte die Provokateure ›Schakale‹. Und eines Tages erschien Péret bei einer Veranstaltung in deutscher Uniform und mit Gasmaske und rief: »Es lebe Frankreich, es leben die französischen Pommes frites!« Offizielle Feierlichkeiten besucht er meist mit einer Tüte voller Tomaten, Kohl und Eiern, die er mit beachtlicher Treffsicherheit wirft.
André beteiligt sich nicht mehr an den von Benjamin Péret geleiteten Hypnosesitzungen; denn vor Jahren kam es dabei zu Gewaltausbrüchen. Auch Max und Leonora lehnen es ab, an diesen Sitzungen teilzunehmen. »Wir sind zu sehr Kopfmenschen«, sagt Max.
Am nächsten fühlt Leonora sich Breton, der die Gräuel des Ersten Weltkrieges miterlebt und Patienten mit schweren Depressionen behandelt hat. Nur seine bestimmende Art findet sie unangenehm, und dass er alles kontrollieren will. Gleichwohl sieht sie in ihm einen gutmütigen Löwen, dem sie gern über die Mähne streicht.
Man Ray lässt nicht locker, er will Leonora fotografieren. Sie lehnt ab. »Er ist grausam«, warnt Max Ernst. »Womöglich bringt er dich um, wenn du dich weigerst.« – »Soll er doch!«
»Ich glaube, niemand hier lebt in einer Welt wie meiner«, sagt Leonora zu André. »Manchmal freut mich das, aber manchmal fürchte ich auch, den Verstand zu verlieren.«
»Die Angst vor dem Wahnsinn ist die letzte Barriere, die es zu überwinden gilt. Ein verletzter Geist ist unendlich wertvoller als ein gesunder. Verstörte Gemüter sind kreativ. Als ich vor achtzehn Jahren mit Soupault und Aragon aus dem Krieg zurückkam, haben wir uns besorgt gefragt, was die Schlachten wohl für Spuren in unseren Köpfen hinterlassen haben. Dabei entdeckten wir, dass der Automatismus in der Kunst nicht nur heilsam, sondern auch kreativ sein kann.«
»Ich wurde aber mit Logik erzogen.«
»Ich erst recht, kleine Leonora! Denn ich bin Franzose und Arzt. Du dagegen ähnelst eher Nadja, die reich und eigenwillig war und gerade deshalb irrational.«
»Zu mir sagt er auch gern, ich sei seine Nadja«, klagt Jacqueline Lamba, Bretons Ehefrau, »und stellt mich nie als Malerin vor. Nadja ist übrigens irgendwann im Irrenhaus gelandet, ohne dass er einen Finger gekrümmt hat, um sie zu retten.«
»Mag sein, aber dein Mann ist ein guter Kerl.«
»Ja, das ist er. Trotzdem bin ich diejenige, die den Haushalt führt, die Freunde empfängt und die Asche wegfegt.«
Ernst ist en vogue, ein Mann von Welt, und seine neue Frau, eine bildschöne Engländerin aus gutem Hause, lässt ihn noch kosmopolitischer erscheinen. Als Marcel Rochas die beiden einlädt und Leonora laut überlegt, was sie anziehen soll, rät ihr Prinzessin Marie de Gramont: »Kind, deine natürliche Schönheit genügt.« Leonora hüllt sich daraufhin lediglich in ein Laken. Auf dem Höhepunkt des Festes lässt sie ihre Toga fallen und steht nackt vor den Gästen. Sie und Max werden augenblicklich vor die Tür gesetzt.
In Paris stößt Max sie ins kalte Wasser, lehrt sie, nicht an den eigenen Wünschen zu zweifeln: »Biete die Stirn und du wirst siegen, Leonora. Das Leben gehört den Wagemutigen.« Leonora erzählt ihm von den Visionen ihrer Kindheit, und er rät ihr, den Minotaurus, das Wildschwein und die Pferde aus dem Stall ihres Vaters zu malen. Sie sei mutiger als viele Surrealisten. »Du bist weiter gegangen als alle, die du hier siehst, und das wissen sie«, sagt Max. Man bewundert sie, man will hören, was sie sagt, lesen, was sie schreibt, sehen, was sie malt. Max ist stolz auf Leonora, zeigt sie vor, nennt sie seine Windsbraut.
»Mit ihr wirst du also die Lethe überqueren?«, fragt Breton ironisch.
»Sie ist meine Lethe.«
Die Surrealisten führen ein reges gesellschaftliches Leben. Keinem von ihnen macht es etwas aus, tagsüber zu schlafen und nachts auszugehen. Bars und Cafés sind die Kirchen, in denen Breton seine Messen zelebriert, und seine Messdiener eilen ehrfürchtig herbei. Breton verteilt Ablässe, verurteilt, lockt an und weist zurück. Seine Gläubigen begrüßen den geplanten Ausschluss Dalís, den sie
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