Frau Holle ist tot
grimmiger Freude. Und dieser Stau bremste ihren Verfolger aus und
verschaffte Annika und Mayfeld den notwendigen Vorsprung.
Vom Schwesternwohnheim war es nicht weit bis zum
Parkplatz, wo seine Harley wartete. Er stopfte Annikas Tasche und seinen
Rucksack in die Satteltaschen, hieß Annika, sich hinter ihn zu setzen, und ließ
die Maschine starten. Die Sperrschranken umfuhr er elegant, fürs Bezahlen hatte
er nun wirklich weder Zeit noch Lust.
Als sie auf der Straße waren, erschien der fiese Riese
verschwitzt auf dem Trottoir. Der alte Mayfeld zeigte ihm das Victoryzeichen
und gab Gas.
***
Kommissar Mayfeld saß in seinem Büro und dachte
nach. Er war nicht davon überzeugt, dass Sebastian Fromm ihr Mann war. Er war
mit dem verschwundenen Mädchen zusammen, er war in der Praxis gewesen und hatte
vermutlich die Polizei über Hollers Tod informiert. Aber hatte er auch den Mord
begangen? Einem skurrilen Behinderten traute man schnell alles zu.
Es gab noch eine andere Spur, und die wollte er jetzt
weiterverfolgen. Er legte die DVD aus Hollers
Praxis in den Laufwerkschacht seines PC s und
öffnete die Datei »Möller_Annika.doc« noch einmal. Was hatte Annika mit dem
Satz beim Abschied gemeint: Ich mache Ihnen ein Angebot, das Sie nicht ablehnen
können? War das bloß spätpubertäre Wichtigtuerei gewesen? Eine Drohung? Womit
wollte sie Holler, die anfangs nicht vorgehabt hatte, eine Therapie mit ihr zu
beginnen, ködern?
Annika hatte eine Freundin erwähnt. Deren
elektronische Akte hatte sich Mayfeld noch nicht angesehen. Holler hatte sich » M.L. « notiert.
Er öffnete »Lachner_Marie.doc«.
Holler hatte Folgendes festgehalten:
01.09.2010
Dreizehnjähriges, schwarz
gekleidetes Mädchen mit Gesicht voller Sommersprossen und schwarz gefärbtem
Haar. Von den Eltern angemeldet wegen Schulschwänzen, unerlaubtem
Über-Nacht-Wegbleiben, Alkohol- und möglicherweise Drogenkonsum.
Anfangs sehr reserviert
mir gegenüber, taut dann schnell auf. Rotzfreche, aber herzliche Göre. Voller
Vorwürfe gegen ihre Adoptiveltern.
Aktueller Konflikt:
Mutter schwanger, Pat. soll ins Internat und fühlt sich abgeschoben. Rivalität
zu Mutter und künftigem Geschwister. Regression angesichts bevorstehendem zu
frühem Schritt Richtung Autonomie.
Bagatellisiert
Alkoholkonsum, negiert Drogeneinnahme.
Biografische Anamnese:
Erstes Kind. Eltern
starben bei Autounfall als Pat. drei Jahre alt war, Pat. und Oma ms.
überlebten. Zwei Jahre in Pflegefamilie, dann hatte sich Oma so weit erholt,
dass sie Pat. in ihre Obhut nehmen konnte. Hält Kontakt zu Kindern aus
Pflegefamilie. Von jüngerer Schwester der Mutter vor zwei Jahren adoptiert. Oma
vor einem Jahr verstorben. Schule bis vor einem Jahr unauffällig, seither
Leistungsabfall, Schwänzen. Hobbys: früher Schwimmen, jetzt Reiten, Musik.
Mayfeld klickte auf eine eingebettete Audiodatei.
Der Mediaplayer des Computers öffnete sich, und Mayfeld hörte in den Mitschnitt
der ersten Therapiestunde hinein.
Nach anfänglich stockendem Gesprächsverlauf, in dem
sich Marie alle Antworten zu ihrer Person nur mühsam entlocken ließ, hatte sie
irgendwann ihre Zurückhaltung aufgegeben und zog hemmungslos über ihre Eltern
her. Sie hätten sie noch nie gemocht und nur adoptiert, weil die Oma Druck
ausgeübt habe. Die Oma sei der beste Mensch der Welt gewesen und leider vor
einem Jahr gestorben. Dann behauptete Marie, das Haus der Eltern gehöre ihr,
das habe die Oma ihr vererbt, und die Eltern würden ihr das wegnehmen wollen,
konnte auf Nachfragen diese Vorwürfe allerdings nicht erhärten, bezog sich nur
auf eine Äußerung ihrer Großmutter kurz vor deren Tod.
Holler kommentierte all dies immer wieder mit der
Bemerkung, sie sei offensichtlich sehr aufgebracht und wisse nicht, wohin mit
ihrer Wut, was Marie einmal schnippisch parierte, indem sie anmerkte, das wisse
sie selbst und ob das der Sinn der Therapie sei, dass Frau Holler ihr das sage,
was sie schon selbst wisse. Holler schlug daraufhin vor, sie könnten zusammen
herausfinden, was sie so wütend mache.
Als Mayfeld eine weitere Audiodatei öffnen wollte,
wurde die Tür seines Büros aufgerissen, und Winkler stürmte in den Raum.
»Meyer hatte gerade die Kollegen vom dritten Revier in
der Leitung«, berichtete sie. »Heute Morgen gab es dort einen Anruf: ›Der Wolf
ist tot, der Wolf ist tot, der Kevin ist tot.‹ Die Kollegen wollten wissen, ob
wir damit etwas anfangen können.«
»Schon wieder so ein verrückter Anruf«,
Weitere Kostenlose Bücher