Frau Paula Trousseau
So brutal wie die Märchen. Hat sie die Märchen nicht gelesen?«
Gerda Heber lachte.
»Und was, glaubt sie, was soll ich nun machen? Neue Blätter liefern? Mit Gänseblümchen und Teddybären?«
»Reden Sie mit ihr. Aber sagen Sie ihr um Himmels willen nicht, sie soll die Märchen lesen. Seien Sie einfach diplomatisch. Sagen Sie nicht gleich Nein, hören Sie sich an, was Isolde sagt, nicken Sie, und dann sehen wir weiter. Bremstätter und ich sind auf Ihrer Seite.«
»Ich kann zurzeit nicht in den Verlag kommen. Das Baby braucht mich Tag und Nacht. Sie soll mir schreiben.«
»Das wäre ganz falsch, Frau Trousseau. Nein, nur nichts Schriftliches. Geben Sie mir Bescheid, wenn Siekommen können. Ich erzähle Isolde, dass Sie mit dem Baby beschäftigt sind. Und machen Sie sich keine Gedanken. Wir schaukeln das Kind schon.«
Ich redete mit Michael über diese dumme Frau mit dem ranzigen Geschmack eines Hausmütterchens, die über meine Arbeiten zu befinden hatte, ich erzählte ihm, was mir auf der Seele lag, während er an meiner Brust saugte und dabei immer wieder einschlief. Dann hob ich ihn mit beiden Händen hoch und fragte, was ich machen solle. Wie ein kleiner Buddha hing er in der Luft, öffnete ein klein wenig die Augen, verzog den Mund und schlief ein.
»Danke«, sagte ich zu ihm, »genauso machen wir es.«
Ich hatte Gerda Heber im Mai gebeten, die zweite Rate des ausgehandelten Honorars möglichst bald auf mein Konto zu überweisen, und sie hatte es irgendwie geschafft, obwohl meine Arbeit noch nicht abgenommen war, so dass ich ausreichend Geld besaß und mir keine Gedanken machen musste.
Erst Mitte Juni, vier Wochen nach der Geburt, fiel mir ein, Anzeigen zu verschicken. Ich ließ dreißig Faltkarten bei einem Bekannten drucken und klebte ein Foto von Michael und mir ein, das Kathi aufgenommen hatte. Nachdem ich die Karten in die Umschläge gesteckt hatte und sie adressieren wollte, bemerkte ich, dass ich viel zu viele Karten hatte. Ich wusste nicht, wen ich eigentlich über Michaels Geburt informieren wollte, wer es wissen sollte. Ich schrieb schließlich die Adressen meiner Eltern und meiner Geschwister auf, schickte eine Karte an Pariani und sogar eine an Kathi, was völlig unsinnig war, aber es gab eigentlich keinen Menschen, dem ich die Geburt meines Sohnes mitteilen wollte. Marco Pariani schrieb mir einen langen freundlichen Brief zurück, in den er zweihundert Mark gesteckt hatte. Er wolle mir oder dem Baby etwas Schönesschenken, kenne sich aber mit Neugeborenen überhaupt nicht aus und bitte mich, das Geschenk für ihn zu kaufen. Von meiner Schwester kam ein sehr herzlicher Brief, mein Bruder schickte eine Glückwunschkarte, und von meinen Eltern kamen nur Unverschämtheiten. Vater hatte sich mühsam einen knappen Glückwunsch abgerungen, um dann zu fragen, ob ich das Kind behalten oder mich wieder der Verantwortung entziehen werde, und Mutter erteilte mir Ratschläge, wie einem Kleinkind. Sie kündigte an, mich zu besuchen, aber diese Ankündigung war so allgemein gehalten, dass so bald nichts zu befürchten stand. Zweiundzwanzig Geburtsanzeigen mit Foto schickte ich nicht ab, ich ordnete sie in mein kleines Bücherregal, ich hatte die Anzeigen ohnehin nur für mich drucken lassen.
Da ich mich nicht bei der Cheflektorin meldete, kam Gerda Heber kurz vor ihrem Jahresurlaub mit drei meiner Blätter zu mir in die Wohnung. Diese Blätter, zwei Aquarelle und eine Zeichnung, sollten nach einer Entscheidung von Frau Schubach nicht in das Buch aufgenommen werden, weil sie zu grausam seien, und ich sollte einen geeigneten Ersatz liefern. Gerda Heber sagte, sie und Bremstätter hätten alles versucht und sie schließlich auf diese drei Bilder runtergehandelt, aber jetzt müsse ich in den sauren Apfel beißen, wenn ich nicht das ganze Buch gefährden wolle.
»Sie können sich nicht mit Isolde anlegen, Frau Trousseau. Sie hat das letzte Wort, und außerdem würden Sie von uns nie wieder einen Auftrag bekommen.«
Als Michael für zwei Stunden schlief, holte ich die Mappe mit all meinen Arbeiten für das Märchenbuch hervor und suchte die Skizzen, Zeichnungen und Aquarelle nach etwas Geeignetem durch. Ich fand jedoch nur zwei Blätter, die ich guten Gewissens veröffentlichen könnte. In den folgenden Tagen dachte ich hin und wieder an jenesdritte Bild, an das Aquarell, das ich für den Verlag noch zu malen hatte, doch ich hatte keine Intuition, da ich ja mit meinen Blättern zufrieden war und keinen
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