Frau Prinz pfeift nicht mehr
spielend alle die albernen Lieder und Sprüche, die Berthold je über Schwiegermütter gehört
hatte. Nie würde Papke den Tag vergessen, an dem Ingrid ihn ihrer Stiefmutter vorgestellt hatte. Ihr Anblick allein hätte
schon genügen müssen, um abzuhauen, ihre ölige, ranzige Freundlichkeit, mit der sie ihn gleich beim ersten Kaffee in ihrem
Haus nach seinem Herkommen gefragt hatte, nach seiner |105| Bildung. »Ich habe nicht vor, meine Tochter jedem Irgendwem zu geben«, sagte sie, und Berthold Papke fragte sich flüchtig,
ob ein stellvertretender Supermarkt-Filialleiter unter »Irgendwem« bei ihr eingeordnet würde. Das war ihm aber völlig gleichgültig
gewesen, er fühlte nicht die geringste Lust, der Alten die Stieftochter abzunehmen.
Nach der ersten Tasse Kaffee bestand sie darauf, ihn durchs Haus zu führen, ihm Bilder der Prinzschen Vorfahren zu zeigen,
deren Porträts im Treppenhaus hingen. Berthold interessierte sich keine Sekunde für die häßlichen Verblichenen, er erwartete,
daß es Ingrid peinlich war, wie ihre Stiefmutter sein bißchen Höflichkeit strapazierte, aber nein.
Ingrid strahlte heute überhaupt so eigentümlich, Berthold wußte auch nicht, warum ihr Lächeln auf ihn irritierend wirkte.
Die Bilder ihrer Ahnen sah sie liebevoll an, es gabein Jugendbild der Stiefmutter im Flur, die hatte schon immer alt ausgesehen,
daneben das Bild des Vaters von Ingrid, der irgendwie verzweifelt wirkte. Das neueste Foto zeigte Ingrid selber, vielleicht
im Alter |106| von zwanzig, und daneben hing das Konterfei eines jungen Mannes, das Berthold stutzig machte. Da sagte Ingrid auch schon,
das sei ihr Bruder Nepomuk, sie sah ihn dabei aufmerksam an, sagte schließlich, ob er nicht finde, daß Nepomuk ihm ähnlich
sehe. Aber wirklich nicht, rief die Stiefmutter da schrill, doch Berthold, obwohl ihm nicht das geringste daran lag, ganz
im Gegenteil, Berthold erkannte eine merkwürdige Ähnlichkeit auch mit dem Bild dieses Herrn Prinz. Zwar nicht mit sich selber,
aber mit einem Foto, das ihm seine Mutter einmal gezeigt hatte, als er nach seinem Vater fragte. Es gabnur das eine Bild,
weil der Vater nach Aussagen der Mutter noch vor seiner Geburt gestorben war.
Berthold mochte sich bei dieser Ähnlichkeit, die Ingrid offenbar wichtig war, nicht aufhalten. Vielleicht würde er daheim
einmal suchen. Er hatte ein Kästchen voller Fotos aus dem kleinen Nachlaß der Mutter. Vielleicht fand er das Bild seines Vaters.
Jetzt wollte er sich so rasch wie möglich verabschieden. Nur raus hier, weg von dieser |107| Stiefmutter, die nun mit Schwung und großen Gesten auf dem verstimmten Klavier ein rheinisches Schunkellied spielte. Dazu
sang sie mit rollendem R und so viel ranzigem Tremolo in der Stimme, daß Berthold für einen Moment glaubte, sie wolle einen
Scherz machen. Nein. Sie hielt ihren Vortrag für Kunst und erwartete von Berthold Bewunderung. Auch Ingrid schien stolz zu
sein auf das dumpfe, muffige Haus, dessen Erbin sie war und das mit den schaurigen Klängen noch gruftiger wirkte. Berthold
versuchte die erste Verbeugung seines Lebens in Richtung Klavier, er wollte unbedingt das Händeschütteln vermeiden, da er
fürchtete, fettige Finger zu bekommen. Seit Berthold Ingrids Mutter kennengelernt hatte, begriff er einen Aphorismus des fränkischen
Dichters Fitzgerald Kusz: »Bei manchen Leuten fängt das Aarschluuch schon im Gesicht an.«
Damals, nach Bertholds erstem Besuch im Haus Prinz, hatte Berthold noch sicherer gewußt, daß er Ingrid Prinz so schnell wie
möglich loswerden wollte: Ich will nicht in |108| das Haus in der Max-Ernst-Straße einziehen, wo ich jeden Tag das Vergnügen mit der fettigen Brunhilde hätte – Frau Prinz hieß
tatsächlich so, sie brauchte keinen Spitznamen.
Vor allem jedoch, Freude an Ingrid wollte sich auch nicht einstellen. Im Gegenteil. Als er mit beiden Frauen auf einem kleinen
Balkon gestanden hatte, als sie in den tristen Reihenhausgarten hinausschauten, der leer war, ohne jede Blume auf dem spärlichen
Rasen, da spürte Berthold, daß es kühl wurde, obwohl noch September war, über den Gärten hingen dicke Wolken voller Regen,
eine dumpfe schwüle Nässe schien Berthold den Atem zu nehmen, während die Frauen in den Garten blickten, als gäbe es nichts
Schöneres. Berthold mußte tief atmen, um nicht zu ersticken, er wußte in diesem Moment, daß er nichts auf dieser Welt liebte,
am wenigsten aber
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