Frau Schick macht blau
unter den Müllcontainer und tastet den Unterboden ab. »Hab eine.« Er zieht die Hand wieder hervor. »Fass an, bevor die den Deckel draufmacht.«
Herberger starrt auf eine gigantische Weinbergschnecke in Niklas’ Handfläche, die ihre Fühler einfährt, den Saum ihres Kriechfußes kräuselt und ihren Spindelmuskel anspannt, um unter beträchtlichem Schleimausstoß in ihr Gehäuse zu flüchten.
Niklas hält ihm erfreut die Schnecke unter die Nase. »Du musst nur umdrehen und zwei Finger drauflegen.«
»Niklas, du kannst mir auch so glauben.«
»Nee, ohne Schneckenschleim bleibt der Schwur nicht an dir kleben.«
Herberger tippt mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger auf den Kriechfuß, macht mit der linken ein Schwurzeichen in die Luft. »Ich schwöre.«
Unter Absonderung von blasigem Abwehrschaum verschwindet die Schnecke im Kalkgehäuse. Herberger zieht die Finger zurück.
»Nicht abwischen«, befiehlt Niklas. Erfüllt von jenem heiligen Ernst, den nur Kinder in Vollendung beherrschen, legt er seinen rechten Zeigefinger auf Herbergers, kneift kurz die Augen zu und murmelt etwas von »Hotzenplotz und Schneckenrotz«. Dann setzt er die Schnecke wieder unter dem Müllcontainer ab, zupft ein paar Löwenzahnblätter ab und schiebt sie hinterher.
»Man muss nämlich Danke sagen«, erklärt er.
»Hör mal, Niklas, jetzt, wo ich dir etwas versprochen habe, kannst du mir bitte auch einen Gefallen tun!« Herberger federt nach oben und zieht den Briefumschlag aus seiner Jacke. »Gib das bitte Frau Schick. Aber nur ihr, hörst du? Und nicht vor morgen! Es … äh … soll eine Überraschung sein.«
»Soll ich drauf schwören?«, fragt Niklas feierlich und tastet schon nach der Schnecke.
»Das Tier hat eine Pause verdient. Ich glaube dir ausnahmsweise auch so«, sagt Herberger. Er legt dem Knirps zum Abschied kurz die Hand auf die Schulter. Dann dreht er sich um und geht, passiert das lärmende Festzelt, verharrt kurz unter einer Laterne und wirft einen Blick zurück zum Container.
Die Kaltmamsell ist mit einem weiteren Abfalleimer beim Container aufgetaucht und beugt sich zu Niklas herab, der Stalin streichelt.
Ein sehr beschaulicher Anblick, findet Herberger. Bei der Küchenfee ist Niklas bestimmt in besten Händen. Der Kleine hebt vertrauensvoll den Kopf und hat ihn allem Anschein nach bereits vergessen. Erleichtert atmet Herberger auf. Endlich frei. Und völlig ungebunden. Von dem Schneckenschleim an seinen Fingern einmal abgesehen. Klebt wirklich gewaltig. Wohin jetzt? Erst mal den Hauptweg lang und dann in den Wald zurück. Bei der Planierraupe soll seine Pilgerschaft endgültig anfangen.
»Was hast du denn da?«, fragt Frau Pracht beim Container. »Na so was, ein Buch!«
»Lag hinter der Mülltonne. Hat Stalin gefunden«, behauptet Niklas. »Kannste mir was draus vorlesen?«
Frau Pracht hebt bedauernd die Brauen. »Jetzt nicht, Liebelein. Außerdem musst du in die Falle, es ist neun Uhr.«
»Nur den Titel«, bettelt Niklas. »Ich glaub, es geht um Nikoläuser und Muscheln, is’ nämlich eine drauf.«
Frau Pracht gibt nach und nimmt das Buch entgegen, beschaut sich das Cover. »Der Mann mit dem Stab ist nicht Nikolaus, sondern ein Pilger, Niklas.« Sie kneift die Augen zusammen und entziffert den Titel. » Der Jakobsweg zwischen Köln und Trier von Dr. Eckehart Gast . Komisch, was die Leute hier alles so wegwerfen. Erst das arme Olivenbäumchen und jetzt auch noch einen Wanderführer. Na, wahrscheinlich taugt der nichts. Hier ist doch nicht der Jakobsweg.«
»Wo denn dann?«, will Niklas wissen und nimmt ihr das Buch aus der Hand.
Frau Pracht leert polternd ihren Eimer. »Überall und nirgendwo, soviel ich weiß. Enden tut er jedenfalls in Spanien. Da fällt mir ein, direkt hinterm Waldeingang verläuft auch ein Stück. Erkennt man an blauen Wegweisern mit gelben Muscheln.«
»Die da, wo die Bagger stehen?«
Frau Pracht nickt. »So, und jetzt ab ins Bett, junger Mann. Vorher kannst du Opa noch schnell einen Gute-Nacht-Kuss geben.«
»Nee, mach du mal. Stalin muss Gassi. Ich bring mich selbst ins Bett.«
»Aber nicht schummeln! Ich weck dich dann wie immer zum Frühstück.«
Das »Gießkännchen« füllt sich, die Band macht offenbar Pause. Getreu dem Motto »Das Schönste an der Gartenarbeit ist das Gießen« werden Bierbestellungen durch den Saal gebrüllt. Frau Prachts Buffet ist hart umkämpft, an den Tischen und im Gewimmel vieler Grüppchen werden das Musikprogramm, eine drohende
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