Frauen, die Geschichte machten
nicht. Doch wer einmal in den Bannkreis des Energiebündels Rosa geraten war, vermochte sich kaum dem
Sog ihrer Persönlichkeit zu entziehen. Rosas brodelndes Temperament und die Glut ihrer Diktion zogen zudem manchen magisch
an, der sich wie sie zum Kampf berufen fühlte und eine Gefährtin und kein Heimchen suchte. Und doch war ihr privates Glück
immer nur kurzzeitig vergönnt, weil sie kein Recht darauf zu haben glaubte, solange die »Verdammten dieser Erde« rechtlos
der Ausbeutung ausgeliefert waren. Und vielleicht auch weil sie ahnte, dass ihr wenig Zeit blieb …
Am 5. März 1870 oder 1871 oder am 25. Dezember 1870 kam Rosalia Luxemburg oder Luxenburg im russisch-polnischen Zamość südöstlich
von Lublin als Jüngste einer, je nach Quelle fünf- oder siebenköpfigen Geschwisterschar zur Welt. Die ungenaue Datierung erklärt
sich aus den Unterschieden zwischen jüdischem, julianischem und gregorianischem Kalender und aus späteren Korrekturen, die
auch die Schreibweisen des Vor- und Nachnamens betrafen. Heute wird allgemein der 5. März 1871 als Geburtstermin genannt.
Der Vater, ein mit wechselndem Erfolg tätiger jüdischer Holzhändler, und die Mutter, eine geborene Löwenstein, hatten deutsche
Schulen besucht und unterhielten enge Verbindungen ins westliche Nachbarland. 1873 zog die Familie nach Warschau, wo Rosa
ein Mädchengymnasium besuchte. Trotz labiler |223| Gesundheit war sie stets Klassenbeste und erhielt 1887 ein vorzügliches Abgangszeugnis.
Gewöhnlich wurden so gute Leistungen wie die ihren mit einer goldenen Medaille prämiert. Ihr aber wurde sie mit der Begründung
verweigert, sie habe eine »oppositionelle Haltung gegenüber der Autorität« an den Tag gelegt. Schon als Schülerin eine Revolutionärin?
Das wohl eher nicht, vermutlich hatte Rosa nur schon sehr früh einen Widerspruchsgeist entwickelt, der nicht ins Milieu der
Rohrstock-Pädagogik passte, und vielleicht hatten auch die in Polen sehr virulenten antisemitischen Vorurteile bei der Zurücksetzung
der erfolgreichen Schülerin eine Rolle gespielt. Sichere Beweise für eine so frühe konspirative Tätigkeit fehlen, doch fällt
auf, dass schon unmittelbar nach der Schulentlassung Kontakte Rosas zu sozialistischen Gruppen bestanden und dass sie mit
ihrer Hilfe bereits 1888 heimlich über die Grenze nach Deutschland und schließlich in die Schweiz gelangte. Ihre revolutionären
Wurzeln reichen also vielleicht doch recht weit zurück, und die Schule hatte womöglich Wind davon bekommen, als sie die Prämierung
verweigerte.
Gleichviel, von den Einflüssen nahm die junge Frau nur die genuin marxistisch-sozialistischen auf, während sie mit den patriotischen
Verbrämungen der polnischen Genossen wenig anfangen konnte. Als Jüdin war ihr die Verwurzelung in der Heimat ebenso versagt
geblieben, wie sie auch später nirgendwo in nationale »Wallungen« geriet und aller Tümelei abhold war. 1917 brachte sie das
in einem Brief an eine Freundin auf die Formel: »Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen
gibt.« Kein Wunder, dass Rosa Luxemburg in einer vom Patriotismus geprägten Zeit fast überall auf Ablehnung stieß. Am wenigsten
noch in der Schweiz mit ihren vielen Nationalitäten und vielen Fremden. Dort gab es keinerlei Beschränkungen für jüdische
Studenten und auch weit weniger Vorbehalte gegen Studentinnen als in anderen Ländern.
Vielleicht dauerte Rosas Studium in Zürich auch deswegen so lange, nämlich bis 1897, weil sie diese Freiheiten ganz auskosten
wollte, vor allem aber wohl wegen ihrer enormen Wissbegier. Sie nahm an historischen Seminaren teil, belegte juristische Vorlesungen
und hörte Nationalökonomie, beschäftigte sich mit Philosophie und Sozialwissenschaft, und das alles neben dem Einsatz für
die Arbeiterbewegung. 1894 nahm sie am ersten illegalen Parteitag der polnischen Sozialdemokraten in Warschau teil und hielt
auch sonst während ihrer Reisen Verbindung zu den sozialistischen Meinungsführern. Wie sie das alles finanzierte, ist nicht
ganz nachvollziehbar. Sicher ist, dass sie von daheim ein finanzielles Polster mitbrachte und dass später Honorare für Beiträge
in diversen Blättern der sozialistischen Presse sowie Gehälter als Redakteurin hinzu kamen. Doch das griff eigentlich erst
nach der Promotion über »Die industrielle Entwicklung Polens«. Der Doktortitel machte sie als Referentin und
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