Frauen lügen
Weg fernab der sandigen Wege zu suchen. Erst als Tomtom plötzlich vor der eiförmigen Sandmulde stehen bleibt, entdecken sie ein orangefarbenes Etwas zwischen den Heidesträuchern. Bastian zieht eine Plastiktüte aus der Tasche, stülpt sie um, greift mit der Hand hinein und nimmt anschließend vorsichtig das Fundstück vom Boden auf. Es ist ein Streichholzheft mit dem schwungvollen Schriftzug des Hotels
Friesenperle
auf der Umschlagklappe.
»War es hier, wo der Typ versucht hat, etwas in seine Tasche zu stecken, was unter Umständen eine Waffe gewesen sein könnte?«
»Ja, ziemlich genau hier sogar«, antwortet Tomtom, während er sich bemüht, einen Blick auf das Fundstück zu erhaschen. »Hey, das Teil ist ihm dabei aus der Tasche gerutscht, oder?«
»Sieht ganz so aus. Und deshalb habe ich auch eine gute Nachricht für dich. Das hier ist ein Eins-a-Indiz. Und dir ist eine lobende Erwähnung im Polizeiprotokoll sicher.«
Donnerstag, 25 . August, 10.30 Uhr,
Hotel
Friesenperle
, Rantum
Ob es wohl schon in den Nachrichten ist? Meine Uhr zeigt halb elf, und im Radio verklingen gerade die letzten Töne einer Mahler-Symphonie, wie passend.
Jetzt, das Zeitzeichen.
Und – ja! Es ist die Topmeldung.
Kein Wunder, auf der Insel spricht sich alles schnell herum. Obwohl die Polizei die Heidefläche offenbar großräumig abgeriegelt hat, musste der Leichenwagen schließlich irgendwo halten. Und das wird den Reportern kaum entgangen sein. Noch wissen die allerdings nicht, wer das Opfer war. Eine Pressekonferenz der Polizei ist erst für 18 Uhr abends angesetzt, hört, hört. Vom Täter ist natürlich gar keine Rede, auch die Verbindung zu der Schlampe Susanne Michelsen kann die Presse im Moment nur locker ziehen, denn sie wissen ja noch nicht, wen es diesmal erwischt hat. Merkwürdig, dass die Bullen über die Identität des Opfers schweigen. Oder haben sie den guten Jonas etwa nicht erkannt? Dabei habe ich diesmal auf die Brust und nicht ins Gesicht gezielt. Den Anblick hätte ich selbst nicht ertragen. Und übrigens auch nicht gewollt.
Schließlich geht es um den Blick, den letzten, den einen entscheidenden, das habe ich mittlerweile gelernt.
Süchtig werden könnte ich nach diesem Moment, wenn ich ihnen kurz vor dem Ende in die schreckstarren Augen sehe, die Sekunde des Begreifens beobachte. Dieses Entsetzen, wenn das Unfassbare plötzlich für mein Opfer Realität wird.
Und dann der Schuss, der Schluss, was für ein simples Wortspiel.
Und was für ein grandioses Gefühl. Macht in all ihrer Vollkommenheit. Ich habe so lange nicht gewusst, dass es das gibt.
Schade eigentlich, dass es nun vorbei sein soll, wo es doch gerade erst angefangen hat, Spaß zu machen. Aber man soll ja nie nie sagen. Denn wenn mir in Zukunft jemand dumm kommt, dann werde ich genau wissen, was ich zu tun habe … sehr genau sogar …
Donnerstag, 25 . August, 10.39 Uhr,
Kriminalkommissariat Westerland
Fieberhaft durchsucht Sven Winterberg das iPhone von Antonia Dornfeldt. Schnell stößt er auf die mehr oder weniger gereizten Mails, die sie in den letzten Tagen mit Jonas Michelsen gewechselt hat. Mehrmals ist von dem bevorstehenden Notartermin die Rede, doch nie wird eine Tochter Michelsens erwähnt. Allerdings scheint es auch so, als lege sich Michelsen mit seinen Angaben über den Inhalt des neuen Testaments bewusst nicht fest. Ob Antonia Dornfeldt dies auch aufgefallen ist, vermag Sven nicht zu entscheiden, denn bekanntlich fällt einem ja immer nur das auf, wonach man auch sucht. Und die Dornfeldt ist mit Sicherheit davon ausgegangen, dass das Testament ausschließlich zu ihren Gunsten aktualisiert werden wird.
Interessanter für Sven sind also die Mails, die zwischen der Dornfeldt und ihrem Bruder getauscht worden sind. Der Hotelmanager hat seinen Arbeitgeber offenbar in größerem Umfang betrogen als bisher angenommen. Und die Schwester hat davon gewusst.
Schnell kommt Sven zu dem Schluss, dass die Betrügereien nur dann nicht aufgeflogen wären, wenn Antonia Dornfeldt durch das neue Testament und vielleicht auch durch eine Eheschließung mehr Mitsprachemöglichkeiten in Michelsens Imperium gehabt hätte. Eine plötzlich auftauchende leibliche Tochter war da natürlich wenig willkommen. Wahrscheinlich ist das noch kein stichhaltiges Mordmotiv, überlegt Sven, aber der Mörder oder die Mörderin hat es ja nicht zum ersten Mal getan, und aller Erfahrung nach sinkt die Hemmschwelle bei Folgetaten erheblich.
Energisch
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