Frauen lügen
Vielleicht gibt es doch irgendwelche gut getarnten Mauscheleien.«
»Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?«
»Irgendjemand muss das Feuer schließlich gelegt haben. Der Speisesaaltrakt ist erst vor zwei Jahren gebaut worden. Wer weiß schon, ob dabei alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Es ist doch Usus in Unternehmerkreisen, die eine oder andere Rechnung nicht zu bezahlen. Manchmal treibt das die Handwerker an den Rand des Ruins. Und Rache ist immer ein starkes Motiv.«
»Besonders vielversprechend klingt das aber nicht.«
»Wir dürfen trotzdem nichts unversucht lassen. Außerdem ist übermorgen Susanne Michelsens Beisetzung.«
»Aha. Und Sie glauben, da wird der Mörder sich vor aller Augen am offenen Grab präsentieren?«
»Das nun gerade nicht. Aber vielleicht ist es sinnvoll, mit einer Verhaftung Jonas Michelsens bis nach der Trauerfeier zu warten. Falls wir bis dahin nicht neue Erkenntnisse haben …«
»Warum sagen Sie das nicht gleich, Kreuzer? Wenn Sie es für richtig halten, dann machen Sie es so. Aber danach will ich Resultate sehen, haben Sie das verstanden?«
»Selbstverständlich.«
Ohne Abschiedsgruß unterbricht die Staatsanwältin die Verbindung. Bastian greift wieder zu seiner Mandarine und reißt ihr die Schale in einem Ruck vom Körper, als sei es eine rote Haarmähne, in die er seine Fingernägel krallen könnte.
Montag, 22 . August, 10.50 Uhr,
Haus Dünengrund, Kampen
Die Straße vor dem Anwesen Jonas Michelsens liegt verlassen in der Morgensonne, die seit Tagen zum ersten Mal von einem strahlend blauen Himmel scheint. Als ein schlanker Mann in Jeans und Poloshirt sich dem Grundstück nähert, er trägt eine Baseballkappe auf dem Kopf und eine Sonnenbrille im Gesicht, gibt es niemanden, der Notiz von dessen allzu neugierigen Blicken nehmen kann. Nachdem der Spaziergänger sich vorsichtig umgesehen hat, tritt er nah an das breite Friesentor heran. Doch er klingelt nicht, sondern versucht lediglich, sich einen genauen Eindruck von Haus und Grundstück zu verschaffen. In der Auffahrt parkt kein Wagen, doch die Villa wirkt bewohnt. In der ersten Etage ist ein schmales Fenster gekippt, und in der Diele scheint Licht zu brennen. Indizien, die auf eine Anwesenheit des Besitzers hindeuten könnten. Vielleicht hält sich aber auch nur eine Putzfrau in dem Gebäude auf. Der Beobachter wirft einen suchenden Blick die Straße hinauf und hinunter, doch kann er nirgendwo einen dieser kompakten Kleinwagen entdecken, mit denen die Reinigungsdienste für gewöhnlich auf der Insel unterwegs sind. Dafür erspäht er ein junges Mädchen, das sich vom Dorfkern her nähert und zielstrebig in seine Richtung läuft. Schnell bemüht sich der Beobachter, möglichst unauffällig zu verschwinden. Dafür kommt nur noch der Weg in Richtung Strand in Frage. Zwischen dem Ende der Villenstraße und der Nordsee liegt ein breiter Streifen Heide, aus der sich die besonders hohe und seit Jahrzehnten befestigte Uwe-Düne erhebt, die wegen der phänomenalen Weitsicht, die sie bietet, ein beliebtes Touristenziel ist. Der Mann mit der Sonnenbrille schlägt den Weg durch die Heide ein und wagt es erst aus sicherer Entfernung, sich nach der jungen Frau umzudrehen. Es wundert ihn nicht, dass jetzt sie vor dem Tor zu Jonas Michelsens Anwesen auf den Zehenspitzen steht und versucht, einen Einblick in das Grundstück zu bekommen.
Fred Hübner – denn niemand anderes verbirgt sich unter Sonnenbrille und Baseballkappe – hat die junge Frau längst erkannt. Es ist die Schwesternschülerin, mit der sich Jonas Michelsen am Todestag seiner Ehefrau in dem Hamburger Café getroffen hat. Die Tatsache, dass Michelsen allen Presseberichten zufolge bisher ohne Alibi dasteht, er das Mädchen folglich nicht als Zeugin für seine Hamburger Aktivitäten genannt haben kann, bestätigt Hübner in seinem Verdacht, dass das ungleiche Paar aus gutem Grund das Licht der Öffentlichkeit scheut. Zu gern wüsste er jetzt, ob sich der Hotelier auch auf der Insel befindet.
Nach kurzem Nachdenken beschließt Hübner, ein nicht ungefährliches Experiment zu wagen. Er kehrt um und nähert sich wieder dem Anwesen Michelsens. Die junge Frau ist in ihre Beobachtung so vertieft, dass sie den Journalisten erst wahrnimmt, als er schon wenige Meter hinter ihr steht.
»Na, auch neugierig geworden auf das Wohnhaus der Toten?«, erkundigt er sich in einem betont leichten Tonfall, den herzustellen ihm sehr schwer fällt.
Die junge Frau fährt
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