FreeBook Das Laecheln der Gerberstochter
ihn also auch die nächsten Monate fast jeden Tag sehen.
8.
Der Donnerstag begann kühl und windig. Die Sonne versteckte sich hinter einer hohen Wolkendecke und warf nur einen fahlen Schein auf die Stadt. Sogar die Spatzen balgten sich nicht mehr lautstark um Essenreste auf den Gassen, sondern hockten still mit aufgeplustertem Gefieder in Mauerritzen und Nischen. Passanten eilten über den leeren Platz des Alten Marktes, als würde sie etwas antreiben. Kaum jemand schien Zeit für einen kurzen Plausch mit Bekannten zu haben.
Benno zog den Kragen seines Mantels höher und steckte die Hände tief in die Taschen. Er brauchte am Brunnen nicht lange zu warten, denn Rosa kam – wie am Vortag verabredet – pünktlich mit dem Glockenschlag der Turmuhr um die Ecke. Sie trug einen groben Wollmantel mit Kapuze, unter der einige Strähnen ihres hellblonden Haares hervorschauten. Benno sah sie lächelnd an.
Was für eine Frau!, dachte er und vergaß auf der Stelle Anneliese, mit der er gestern noch tief gehende Gedanken über Gott und die Welt ausgetauscht und dabei auch ein wenig geflirtet hatte.
Sie begrüßten sich, wie es sich in der Öffentlichkeit schickte, um nicht neuen Tratsch in die Welt zu setzen. Doch kaum jemand nahm Notiz von den beiden, obwohl Rosa Münkoff sonst immer ein gutes Thema unter den Klatschweibern war. Gerüchte, dass die Kaiserlichen noch vor den Schweden Magdeburg erreichen könnten, machten alles andere in der Stadt nebensächlich oder gar bedeutungslos.
»Waren Sie im Dom, als der Schatten von Klaus Emmerich dort am Deckengewölbe herumgeisterte?«, fragte Benno sie unvermittelt, weil ihm dieses Ereignis immer noch durch den Kopf ging und er noch keine befriedigende Antwort dafür gefunden hatte.
Rosa nickte.
»Und haben Sie den Schatten auch gesehen?«
»Ja, habe ich.«
»Wirklich?
»Wirklich!«
»War das keine Sinnestäuschung?«
»Nein, der Schatten war echt. Ich habe ihn gesehen.«
Nun war Benno verblüfft. Er hatte schon für sich den Schluss gezogen, dass einige hysterische Weiber nur »Gespenster« in der Kirche gesehen hatten. Aber Rosa gehörte mit Sicherheit nicht zu solchen Frauen.
Während sie langsam über das Kopfsteinpflaster schlenderten, berichtete Rosa von ihren Beobachtungen und Erlebnissen im Dom. Benno unterbrach sie nicht, sondern versuchte nur zu verstehen, was sich dort tatsächlich abgespielt hatte, und wer da als Klaus Emmerich aufgetreten war. Emmerich selbst? Der war doch tot! Ein Zwillingsbruder? Der Kaufmann hatte laut Kirchenbuch keine Geschwister. Ein Doppelgänger? Warum war der dann nicht schon vorher aufgefallen, und was wollte dieser Mann überhaupt bezwecken? Nur seinen Spaß haben oder die Leute in Angst versetzen? Fragen über Fragen. Vielleicht konnte Berta Emmerich mehr Licht in die Angelegenheit bringen.
Eine noch junge Frau mit ausgezehrtem Gesicht, wirrem Blick und zerzausten Haaren schlurfte scheinbar ziellos über den Platz, bis sie zum Brunnen kam. Dort hielt sie sich mit einer Hand am Rand fest und rief mit zittriger Stimme, während sie zum Himmel blickte:
O weh, o weh, der stolzen Stadt,
du Jungfrau, die dem Freier wehrt,
noch dieses Jahr wirst du verheert
durch Tilly, der kein Mitleid hat.
»Wer ist diese Verrückte?«, fragte Benno.
»Man nennt sie die Sibylle von Magdeburg«, antwortete Rosa. »Sie war eine Heilkundige und kannte sich mit Kräutern gut aus.«
»Heilkundige? Die leben ziemlich gefährlich. Schon manche dieser Frauen wurde als Hexe bezeichnet, grausam gefoltert, bis sie gestand, und dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt.«
»Genau das ist auch ihr beinahe passiert. Vor fünf Jahren war sie schwanger geworden. Wissen Sie, das war das Jahr, als ein eisiger Wind Ende Mai die Flüsse und Seen zufrieren ließ und das Getreide sowie alles Obst vernichtet hat.«
»Ja, ich erinnere mich«, nickte Benno. »Damals hatte man viele Frauen als Hexen verbrannt, weil sie angeblich diese Kälte herbeigerufen hätten.«
»Auch diese Heilkundige hatte man im Verdacht. Als sie dann schwanger geworden war, wollte sie nicht preisgeben, mit wem sie geschlafen hatte. Böse Zungen behaupteten deshalb, sie habe mit dem Teufel Verkehr gehabt und würde einen Wechselbalg in ihrem Leib tragen.«
»Einen Wechselbalg?«, unterbrach sie Benno. »Wer glaubt denn noch an so was? Dass böse Geister oder Zwerge das Menschenkind gegen ihre hässlichen, missgestalteten Kinder austauschen. Außerdem kann es dann ja gar kein Kind des Teufels
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