freeBooks Thor - Die Asgard-Saga Roman
schweigend, trat er wieder an den Tisch heran und blickte auf das blasse Gesicht der toten Kriegerin. Endlose Augenblicke standen Urd und er still nebeneinander. Irgendwann krochen Urds Finger zu seiner Hand und versuchten sie zu umschließen, doch er zog den Arm zurück; obwohl ihm klar war, wie sehr er sie damit verletzen musste, hätte er ihre Berührung in diesem Moment nicht ertragen.
»Warum hast du es mir nicht gesagt?«, flüsterte er.
»Was?«
»Es ist nicht nur diese tote Frau«, sagte Thor. »Hrothger hat nicht nur geglaubt, jemanden in mir zu erkennen, weißt du? Und er ist nicht der Einzige. Lasse …«
Urd wich seinem Blick aus und hüllte sich auch weiter in Schweigen.
»Dein Mann, Urd«, fuhr Thor fort. »Er hat mich erkannt. An dem Tag, als er starb, hat er mich erkannt. Er wusste, wer ich bin. Und ich glaube, du weißt es auch.«
Er rechnete nicht mit einer Antwort, doch er bekam sie. »Vielleicht hatte ich Angst.«
»Vor mir?«
»Davor, dass es vorbei sein könnte. Es war ein Traum, Thor.«
Thor drehte sich ganz zu ihr herum und trat zugleich einen halben Schritt zurück, um sie zur Gänze ansehen zu können. Urd zitterte. Ihr Blick irrte unstet überallhin, nur nicht zu ihm und nicht zu der Gestalt auf dem Tisch, und bei aller Kraft undallem trotzigen Widerstand, die sie gerade noch ausgestrahlt hatte, sah er jetzt immer deutlicher die verzehrende Furcht, die sich unter dieser Maske verbarg.
»Ein Traum?«
» Du warst ein Traum«, murmelte sie. »Eine Gestalt wie aus einem Traum, die auftaucht, wenn es am schlimmsten ist und keine Hoffnung mehr besteht. Ich wollte nicht, dass dieser Traum endet. Ich hatte Angst, zu erwachen und feststellen zu müssen, dass du niemals da gewesen bist.«
Thor sah sie nur weiter fragend und auffordernd an.
»Hättest du …« Urd nahm sichtlich all ihren Mut zusammen und setzte noch einmal neu an. »Wärst du auch bei uns geblieben, wenn du es gewusst hättest?«
Wenn ich was gewusst hätte? , wollte er fragen, doch dann war er eigentlich so weit, sich auch einzugestehen, was er tief in sich schon lange wusste. Statt etwas zu sagen, sah er wieder die tote Kriegerin an, und Urds Blick umflorte sich weiter.
»War sie … eine Verwandte von dir?«, fragte er.
»Wir sind vom gleichen Blut, wenn es das ist, was du meinst«, antwortete Urd. Zögernd streckte sie die Hand aus, wie um das Gesicht der Toten zu berühren, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, als hätte sie Angst, sie aus ihrem friedlichen Schlaf zu reißen. »Wir sind ein kleines Volk. Das waren wir immer. Würdest du unseren Stammbaum zurückverfolgen, würdest du wahrscheinlich feststellen, dass wir alle aus derselben Familie stammen.«
Danach hatte er nicht gefragt, und das wusste sie auch. »Du hättest es mir sagen müssen«, murmelte er. Alles brach auseinander. Urd hatte recht mit dem, was sie gerade gesagt hatte: Es war ein Traum gewesen, für sie beide, und nun ging er zu Ende, schnell, brutal und wahrscheinlich auf keine gute Art.
»Was hätte ich sagen sollen?«, fragte Urd, lauter und in einem Ton, den er für schrill gehalten hätte, hätte er nicht zugleich auch gewusst, dass er zugleich ein verzweifelter Schrei war, den sie nicht mehr vollends zurückhalten konnte. »Dass ich eine Lichtbringerin bin? Dass ich genau zu denen gehöre, vor denen zu fliehen ich vorgebe?«
»Wäre das denn die Wahrheit gewesen?«, fragte er sanft. »Dass du es nur vorgibst , meine ich.«
Tränen schimmerten in ihren Augen, aber ihr Gesicht blieb unbewegt. »Es wäre die Wahrheit gewesen, aber wie hättest du mir glauben können?«, sagte Urd, nun wieder leise. »Ich war eine Lichtbringerin.« Sie deutete auf die Tote. »Ich war wie sie. Ich habe an das geglaubt, was man mir erzählt hat. Ich wollte es glauben, denn ich bin mit dem festen Glauben an den Gott des Feuers und seine Macht aufgewachsen. Ich habe ihn gesehen , Thor.«
»Ihn gesehen?«, vergewisserte sich Thor. »Loki?«
»Ja«, bestätigte sie. Jetzt lächelte Urd, auch wenn es im Grunde nur ein Verziehen der Lippen war. »Die Götter sind keine mythischen Wesen, die nur in unserer Einbildung existieren, Thor. Sie leben. Es sind Menschen wie du und ich … aber sie sind unvorstellbar mächtig. Ich …« Sie suchte nach Worten. »Ich habe seinen Versprechungen auf ein besseres Leben und eine Zukunft ohne Not und Angst geglaubt, wie wir alle. Willst du mir vorwerfen, dass ich ein bisschen Glück für mich und meine Kinder
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