Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
einfach nicht genügend freie Zeit hat, es in einem Zug durchzulesen.
Und wie war das mit mir und der »Kultur«, so wie man sie in Deutschland versteht? Stundenlang stillsitzen - im Kino kein Problem. Aber ins Theater gehen? Lieber nicht. Musik habe ich immer gern gehört, und nicht nur Pop, sondern durchaus auch mal Klassik. Aber gleich ein Konzertabend? Bitte nicht. Als ich dann, Christoph zuliebe, zum ersten Mal die Oper besuchte, interessierte mich das zunächst nur als gesellschaftliches Ereignis. Doch es kam ganz anders. Ich habe mich wie ein Kind gefreut über das unglaubliche Ausmaß an Schönheit und Vollkommenheit, das auf der Bühne dargeboten wurde. Ein unvergesslicher Ohren- und Augenschmaus - für mich eine Offenbarung.
So tauchte ich jetzt nochmals in eine Welt ein, die mir zuvor verschlossen gewesen war. Anfangs tat ich mich etwas schwer in der Gegenwart von Menschen, die über weit mehr Bildung verfügten als ich. Auch da hat Christoph mir geholfen. Einfach, indem er mich immer wieder darin bestätigte, dass ich es nicht nötig habe, klüger erscheinen zu wollen, als ich bin. Was heißt »klüger« - es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, Klugheit zu beweisen! Und auch hochgebildete Menschen können überraschend großes Talent beweisen, sich zum Narren zu machen …
Christoph und ich, das war ein Traum zu zweit.
Aber ich war immer noch eine alleinerziehende Mutter. Der Mann, der mich wollte, musste auch mein Kind wollen. Zunächst schien auch damit alles klar zu sein. Christoph holte uns zu sich in seine geräumige Altbauwohnung. Und anfangs ging ja auch alles gut, sogar sehr gut. Christoph gelang es, Cenk die Augen für seine musische Begabung zu öffnen. Er führte ihn an das Theater und an die Musik heran. Gesungen hatte mein Sohn immer schon gern und gut, aber nun entwickelte er auch Ehrgeiz. Er lernte eifrig Gitarre und war Feuer und Flamme für die Theatergruppe in seinem Gymnasium.
Doch es gab noch eine andere Seite an ihm, und mit der kam Christoph weniger gut zurecht. Cenk war unordentlich, ja chaotisch in den Augen eines Ästheten wie Christoph. Dieser sah es zwar gern, dass sein junger Freund sich stundenlang mit der CD-Sammlung beschäftigte, die, fein säuberlich geordnet, unser gemeinsames Wohnzimmer zierte. Wenn die silbernen Scheiben aber anschließend überall verstreut waren, störte, ja kränkte das Christoph. Es gab immer wieder Differenzen dieser Art, allesamt Reibungspunkte zwischen den beiden und, auf Dauer jedenfalls, auch zwischen meinem Partner und mir.
Dabei musste ich ihm im Prinzip ja recht geben. Cenk war unordentlich und chaotisch. Womit mein neuralgischer Punkt berührt wäre. Musste ich mich nicht maßgeblich verantwortlich fühlen für das Tun und Lassen meines Sohnes? Schließlich hatte ja ich ihn erzogen. Nichts geht einer Mutter so nahe wie ihr Kind, und wahrscheinlich werde ich mich selbst dann noch für sein Verhalten innerlich in die Pflicht nehmen, wenn mein Einfluss auf Null reduziert
sein wird. Doch immerhin war ich jetzt in der Lage, mit diesem heiklen Thema anders umzugehen als früher.
Cenk war nun 16 Jahre alt. Ich konnte und wollte es ihm nicht länger ersparen, selbst Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen. Und er enttäuschte mich nicht. Es gelang uns, vernünftig über das Problem zu sprechen. Ja, wir begriffen beide, dass wir unsere Beziehung zueinander auf eine neue Grundlage stellen mussten. Es war für uns beide nicht gut, dass wir immer noch aneinander hafteten wie zwei Kletten. Aus dieser Sackgasse mussten wir heraus. So kamen wir überein, dass er in ein Internat gehen würde.
Heute frage ich mich natürlich, ob Cenk das wirklich wollte. Vielleicht hatte er einfach die Nase voll von all den Spannungen. Vielleicht wollte er auch nur seine Freiheit. Vielleicht liebte er mich auch so sehr, dass er mir nicht mehr im Weg stehen wollte. Kinder können so heroisch sein.
Als Mutter dachte ich, jetzt muss er endlich erwachsen werden. Als Frau habe ich unbewusst auch meine eigene Freiheit organisiert. Ich fühlte, dass ich für mich selbst frei sein musste. Und alle drei dachten wir, dass es das Beste sei, wenn Cenk ernsthaft anfinge, auf eigenen Beinen zu stehen.
Durch und mit Christoph habe ich zum ersten Mal in meinem Leben erfahren, wie die Freiheit schmeckt! Es war unbeschreiblich schön … und erschreckend. So viele Möglichkeiten! Aber auch so viele Abgründe! Cenk war weit weg, im Internat, und Christoph,
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