Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
geliefert hatten, fanden jetzt erbarmungslose Kleinkriege statt.
Wenn die selbstverständliche Harmonie zwischen uns beiden, die allen Querelen zum Trotz immer bestanden hatte, mehr und mehr einer gefühlsmäßigen Distanz wich, so lag das wohl auch daran, dass wir uns in der Pubertät unterschiedlich entwickelten. Während Hatice ausgeprägte
weibliche Formen bekam, blieb ich recht lange iǧne ipliǧe dönmek - Nadel und Faden. Hätten wir einen Wettbewerb um die schlankste Figur veranstaltet, ich hätte ihn mit zehn bis zwölf Kilo Unterschied gewonnen. Hatice stellte ihre langen Beine in kurzen Röcken zur Schau und interessierte sich bereits mächtig fürs andere Geschlecht. Immer war sie in irgendeinen Jungen aus der Schule verliebt und lag mir mit ihren Schwärmereien in den Ohren. Ich dagegen machte mich absichtlich wie ein Junge zurecht, trug das Haar kurz und schmucklos und fühlte mich nur in Jeans und T-Shirts wohl. Mich trieb etwas ganz anderes um, und das wollte ich mit aller Gewalt.
Wenn ich überlege, woher ich komme und dann den Blick auf das richte, was ich heute bin und haben darf, dann ist mir klar, dass ich auch viel Glück hatte. Ich glaube aber nicht, dass es nur eine Laune des Schicksals war, die mein Lebensschiff doch noch an ein sonniges Ufer gespült hat. Ebenso wenig glaube ich, dass jeder, der etwas leistet, immer auch dafür belohnt wird. Es gibt keinen obersten Richter, der mit Waage und Zentimetermaß dasitzt und die Leistungen der Menschen misst, um ihnen dann das Verdiente zuzuteilen. Und noch viel weniger sind wir Menschen in der Lage, unseren Mitmenschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Nein, es gibt da noch etwas anderes. Es beginnt mit dem Glauben an uns selbst, den wir nie verlieren dürfen. Und es geht weiter mit der Fähigkeit, im schlimmsten Schlamassel an unseren Träumen festzuhalten. Zuallererst brauchen wir eigene Träume - ohne sie wären wir verraten, verkauft und verloren.
Als Kind hatte ich einen Geschmack vom Geheimnis der Kraft des Träumens und des Wünschens bekommen, des Wünschens aus einem reinen und lebendigen Herzen. Inmitten meines freudlosen Alltags gab es im innersten Bezirk meiner Seele etwas ganz Besonderes. Diese nährende Kraft aber versiegte, als ich den Kampf um Selbstbestimmung und Freiheit ernsthaft aufnahm. Ich geriet in ein Kraftfeld ganz anderer Art.
Zu meinem inneren Gott wurde jetzt mein Wille. Ich wollte ! Absolut und bedingungslos. Ich machte mir keine Gedanken darüber, dass meine Kräfte klein waren und die Welt da draußen so groß. Gerade ein Mensch, der einer Hölle entrinnen will, wächst über sich hinaus.
Ich lernte nun eine neue Kraft in mir kennen. So ließ ich erst meine Bedenken los - und später sogar manche Skrupel. Ich wollte aus meiner Hölle heraus - am besten, unter Umgehung dieser Welt, direkt in meinen ganz persönlichen Himmel. Dass es ein steiniger und gefährlicher Weg werden würde, ahnte ich bereits. Dass ich dabei auch manchen anderen Menschen mit ins Verderben reißen könnte, wurde mir erst im Nachhinein so richtig klar.
Jetzt, in diesem Moment, mit sechzehn Jahren in einem elenden Kaff an der Grenze der westlichen Zivilisation, gab es für mich nur eines: Druck machen! Druck vor allem meinen Eltern gegenüber. Hatte ich zuvor darum gebettelt, dass sie mich erlösten, so forderte ich es jetzt. Und sie hatten bereits eine Ahnung davon bekommen, wie entschlossen ich sein konnte.
»Ich will hier endlich raus! Wenn ich nicht mit nach Deutschland kommen kann, seht ihr mich nie wieder!«
Ich wusste zwar nicht, wohin ich im Ernstfall gehen sollte, aber ich wollte um jeden Preis meine Entschlossenheit demonstrieren. Vor allem gegenüber meinem Vater, dem Entscheidungsträger der Familie. Ich war notfalls bereit, ihn bis zur Weißglut zu treiben. Ich will hinsichtlich meines Verhaltens nicht in weitere Einzelheiten gehen, ich will nur sagen, dass ich es ihm hoch anrechne, dass er mich selbst in dieser kritischen Phase nicht ein einziges Mal geschlagen hat.
Meine Persönlichkeitsänderung ließ sich vor niemandem mehr verbergen. Natürlich wurde inzwischen auch in der Verwandtschaft darüber geredet.
»Babanne ist überfordert. Mit über 80 Jahren kommt sie gegen die Zwillinge nicht mehr an. Mit der einen ginge es ja noch, aber die andere ist schwierig, die überfordert sie zunehmend.«
So tuschelte man.
Ich war der kritische Fall von uns beiden. Zum ersten Mal stellte sich Tante Naile, eine der beiden
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