Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
gute!
... und es ergreifen
Darmstadt, im Jahr 1986/86
I ch habe meinen Hausschlüssel vergessen und muss klingeln. Vater öffnet.
»Meine Tochter ist nicht zu Hause.«
Schon ist die Tür wieder zu. Im ersten Moment stehe ich ziemlich belämmert da. Dass er mich nicht erkennen würde, hätte ich dann doch nicht erwartet. Was bleibt mir anderes übrig, als nochmals zu klingeln?
Wieder geht die Tür auf, diesmal ganz langsam.
Und dann kriege ich eine gescheuert, dass mir die Spucke wegbleibt.
Lieber Papa, diese Ohrfeige zählt nicht in unserer Bilanz. Ich bleibe dabei: Du hast mich nie geschlagen! Dir ist halt die Hand ausgerutscht, aber sie traf nicht mich, sondern eine fremde Person, die du im ersten Moment nicht als deine Tochter erkanntest. Wie denn auch? Diese blauschwarze, hochtoupierte Haarvermehrung da vor der Tür …
Ich war ein Spätzünder. Als ich dann aber erst einmal angefangen hatte, mein Äußeres aufzumöbeln, war ich nicht mehr zu bremsen. Die Ausbildung zur Friseurin eröffnete mir Möglichkeiten, beflügelte meine Inspiration und ließ
mich ständig Neues ausprobieren. Herrn Stepanovic entging dieser Eifer nicht, und er förderte mich nach Kräften. Ich hatte Glück, dass mein Lehrherr nicht nur ein galanter Plauderer, sondern auch fachlich eine Kanone war. Als Ästhet mit ausgeprägtem Gespür dafür, welche Frisur zu welchem Typ passt, fühlte er sich von seiner konservativen Stammkundschaft häufig unterfordert. Seine magischen Hände verlangten nach kreativerer Beschäftigung …
An diesem Punkt trafen sich die Bedürfnisse eines verkannten Genies und die Ambitionen seiner jungen Lehrtochter, die nun Blut geleckt hatte - obwohl sie doch erst zu ihrem Glück gezwungen werden musste! Ich stand in regem Kontakt zu einer ganzen Reihe williger Versuchskaninchen, die nur darauf warteten, einen Kopf im dernier cri verpasst zu bekommen. Eine Löwenmähne à la Farrah Fawcett, mit nach hinten toupierter, dauergewellter Lockenpracht? Das war ganz genau das Richtige für meine Schwester. Eine schwindelerregende Turmfrisur - je höher, desto besser? Klar doch, meine Punkfreundin Shandy wartete nur auf so etwas, am liebsten mit grellroten Strähnen. Ein Popper-Kurzhaarschnitt nach Starfriseur Vidal Sassoon, der alle Haartürme schleifen und wieder in die Natürlichkeit kommen wollte? Bitteschön, da stelle ich mich doch selbst zur Verfügung, und nebenbei: Mit dem uniformen Zwillingslook war jetzt endlich einmal Schluss!
Herr Stepanovic blühte förmlich auf. Als versierter Handwerker mit filigranem Geschick war er dazu prädestiniert, den Herausforderungen der aktuellen internationalen Haarmode gerecht zu werden. Und seine Experimentierfreude
machte nicht davor Halt, einen biederen Darmstädter Friseursalon nach Feierabend in ein Versuchslabor für wagemutige junge Damen zu verwandeln. Ich lernte ungeheuer viel dabei, viel mehr, als zum Pflichtprogramm meiner Lehrausbildung gehörte. Es entstand eine ungewöhnliche Symbiose zweier leidenschaftlicher Stylisten, wobei der eine vom anderen profitierte: Ich lieferte dem Maestro die Modelle, und er lehrte mich nicht wenige Geheimnisse unserer Zunft.
Heute sage ich meinen eigenen Lehrlingen immer wieder, dass es nicht nur ein Beruf ist, Menschen schön zu machen, sondern unbedingt eine Berufung. Man muss Leidenschaft dafür empfinden - und man sollte diese Arbeit nicht nur als Handwerk betrachten, sondern auch als Kunstform. Ich schätze mich glücklich, dass ich bereits in jungen Jahren Feuer gefangen habe, denn um besser zu werden als der Durchschnitt, braucht man nicht nur eine gute Portion Talent. Es bedarf auch der Bereitschaft - und der Gelegenheit - zu immerwährender Übung. Training, Training, Training: Das gilt für uns Stylisten ebenso wie für Sportler, Musiker, Models, Schauspieler und alle anderen Performer auch.
Und noch etwas habe ich von Herrn Stepanovic gelernt: Ich darf den Menschen, der sich mir auch deshalb anvertraut, um seine äußerlichen Unvollkommenheiten - und, ja, selbst die Schönsten unter uns haben sie - zu beheben, nicht als Mittel zum Zweck betrachten. Vielmehr muss ich ihm mit »Seele und Gefühl« begegnen. Es gibt zwei Varianten der Versuchung zur Armseligkeit, wenn ein Coiffeur dies nicht versteht:
Die erste besteht darin, dass er mit spitzen Fingern am Schopfe seines Opfers nestelt und im Tone fachlicher Abgeklärtheit näselt:
»Na, was soll’s denn sein - dasselbe wie letztes
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