Freitags Tod
Worte. Er spürte ihren verwunderten Blick im Rücken. Aber er spürte auch einen unerwarteten Schmerz, einen, den er gern mit einer weiteren, kleinen Dosis gelindert hätte.
»Könntest du …«, ihre Stimme wurde so weich, dass er sich umdrehte, »… mich zur nächsten Werkstatt bringen?«
Nicht nur, weil er über eine Lösung nachdenken musste, sondern weil er eine Weile ihre aparte Gestalt betrachten wollte, ließ er sich Zeit, bevor er antwortete. »Womit?«, fragte er schließlich. »Mit dem Handwagen?«
Claire lächelte mutlos, und es tat ihm leid.
»Ich hätte da noch … Aber sie fährt nicht.«
Ein Glitzern trat in Claires Augen.
»Eine Enduro.« Verletzt beobachtete Tom die Hoffnung in Claires Gesicht.
»Du fährst Motorrad? Wenn das keine Herausforderung ist!«
Tom ging schweigend voraus und öffnete die Tür zum Schuppen. Im trüben Licht des engen Raums stand eine verstaubte R80 GS; jedenfalls das, was von ihr übrig war – der Rahmen, der Tank. Die Räder lagerten einzeln auf dem Boden.
Claire sah Tom von der Seite an. »Das ist nicht dein Ernst?«
»Ich sag doch, sie fährt nicht. Seit Jahren nicht. Ich weiß auch nicht, wer sich inzwischen an ihr zu schaffen gemacht hat. Hier laufen die seltsamsten Gestalten herum.«
»Tatsächlich?« Claire klang wenig überzeugt. »Da ist nichts zu machen. Sämtliche Teile bräuchte ich schon, wenn ich sie fahrbereit kriegen wollte.«
»Und jetzt?«
Claire zuckte die Schultern. Sie ging zurück zum Wagen und nahm ihre Tasche aus dem Kofferraum.
»Dann gehe ich zu Fuß.«
»Ans Meer?«
Sie grinste. »Erst mal bis zur nächsten Werkstatt.«
»Das sind an die fünfzehn Kilometer.«
»Ich bin gut zu Fuß.« Sie fixierte Tom einen Moment. »Du kannst mich ja hinbringen.«
»Hinbringen …« Er zitterte ein wenig und dachte an die »kleine Dosis«. Aber es hatte nichts damit zu tun, das wusste er, nicht direkt jedenfalls. Es hatte mit allem zu tun, dem Lädchen und den Alten und den Pflanzen; mit allem, was war. Claire stand da und tat nichts. Tom entdeckte ein winziges Muttermal über ihrem rechten Schlüsselbein, ein elegantes Fleckchen, das ihn interessierte. Er hätte sich gewünscht, dass sie lächelte. Aber das tat sie nicht. Schließlich holte er Luft und sagte: »Wenn wir meinen Weg nehmen …«
9
Julia hatte »Kappenberg« in ihr Navigationsgerät eingegeben und hielt nun vor einem Haus aus den Fünfzigern, dessen Eingang auf der weinberankten Rückseite lag. Es dauerte eine Zeit, bis Henry Freitag die Tür öffnete. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
»Ja?« Das Auffälligste an dem Mann war nicht sein kantiges Gesicht mit klassischen Zügen, es waren die Schatten unter seinen Augen, die beinahe so dunkel waren wie sein Haar.
»Julia Morgenstern, Kriminalpolizei.« Julia hielt ihren Ausweis hoch.
»Bitte, treten Sie ein.« Henry Freitag ging voraus in ein einfach, aber geschmackvoll möbliertes Wohnzimmer. Deckenhohe Bücherregale, eine Couch, in der man gerne versinken würde, Wände und Boden in warmen Cremetönen. Mit ausgestreckter Hand bot er Julia Platz an. Sie wählte einen Sessel. Henry setzte sich auf die Couch und lehnte sich zurück.
»Ich weiß es schon.«
»Mein Beileid, Herr Freitag«, sagte Julia und entdeckte erstaunt ein Zucken um Henrys Lippen, das sie fast für ein Lächeln gehalten hätte.
»Danke. Bemühen Sie sich nicht. Man hat Ihnen sicher schon gesagt, dass mein Vater kein ganz einfacher Mensch gewesen ist.« Abrupt stand er auf und wanderte durch den Raum. Julia beobachtete die Anspannung in seiner Haltung.
»Und es stimmt, er war wirklich kein einfacher Mensch.« Henry blieb stehen und sah Julia ins Gesicht. Die Farbe seiner Augen hatte die gleiche Intensität wie bei seiner Mutter.
Julia nickte, sagte aber: »Und wie muss ich das verstehen?
Er nahm seine Wanderung wieder auf, blieb erneut stehen, schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und sah aus dem Fenster. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte er hinaus auf den Balkon. Julia schüttelte den Kopf, erst als er sich umdrehte, sagte sie: »Nein.«
»Ich kann nicht viel über ihn sagen. Ich habe lange keinen Kontakt zu ihm gehabt. Seit ich die Begegnung mit ihm vermeiden konnte, habe ich das getan. Wir hatten kein besonders gutes Verhältnis.«
Julia nickte wieder.
»Mit Fünfzehn war ich eigentlich schon weg. Danach gab’s nicht mehr viel, was uns verbunden hätte.«
»Und vorher?«
Henry lachte auf, ein heiserer, unfroher Ton, und
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