Freitags Tod
Wiesen, mit dümmlich mampfenden Schafen, schien endlos. Hoch über den Feldern schlug eine Lerche. Unter Henrys Füßen knirschte Kies. Vater und Mutter verschwanden gut hundert Meter voraus, hinter der nächsten Biegung. Er überlegte, ob er sich kurzerhand davonmachen sollte. Das war natürlich idiotisch. Sie würden es mitbekommen, lange bevor sie das Café am Kloster erreichten. Er war sich sicher, dass sein Vater sich das nicht bieten ließe. Plötzlich brannte die Haut auf seinem Rücken, als hätte sie erst gestern die Striemen vom Gürtel des Vaters abbekommen. Dabei lag das schon zwei Wochen zurück. Es war das letzte Mal! Das allerletzte! Da war er sicher.
Marie. Was hatte ihre hellen Augen so traurig gemacht, als sie ihm den Zettel zusteckte, fragte er sich. Und nun musste er hinter seinen Alten hertrotten, statt sein Gesicht in ihrem Haar zu vergraben. Vielleicht hatte sie seine SMS nicht bekommen und wartete unter der Rotbuche am Pius. Allein und enttäuscht. Von ihrem Treffpunkt hinter dem Gymnasium wusste niemand. Niemand außer Jonas, und der hielt den Mund.
Der Feldweg war in einen asphaltierten Wirtschaftsweg übergegangen. Ein Lüftchen trug den Duft von Holunderblüten heran, süß und sommerlich. Das Ziehen in seiner Brust wurde fast unerträglich. Marie. Henry hob einen Stock vom Wegrand auf und drosch ihn in die Brennnesseln. Die beiden Gestalten vor ihm schritten die Einfahrt zum Kloster hinauf. Wehrhaft ragten die zwei Sandsteintürme in den Himmel.
Hedwig Freitag hatte einen Tisch unter einem der gelben Sonnenschirme ergattert und winkte Henry heran. Nachdem eine Kellnerin Kaffee und Limonade vor ihnen abgestellt hatte, lehnte sich der Vater zurück.
»Vater will dir etwas sagen«, lächelte seine Mutter und schaute wie um Beifall heischend schnell zu ihrem Mann hinüber, erntete aber einen Blick, der sie zum Schweigen zwang.
»Gestern haben wir die Bestätigung bekommen«, begann der Vater.
Henry sah verständnislos von einem zum anderen.
»Mit dem nächsten Schuljahr wirst du im Schloss Buldern aufgenommen.« Der Vater blickte zufrieden.
Henry brauchte einen Moment, um zu verstehen. Er öffnete den Mund. »Aber …«
»Schön, nicht.« Die Stimme seiner Mutter schwankte.
»Aber ihr könnt mich doch nicht auf ein Internat schicken.« Sein Mund wurde trocken.
»Mach dir keine Sorgen, Henry. Du wohnst ja weiter zu Hause. Du wirst als Externer angenommen.« Seine Mutter drückte ihm den Arm, ihre Hand war kalt und feucht.
Henry fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Das also sollte die Neuigkeit sein, die einen besonderen Rahmen brauchte, um mitgeteilt zu werden? Nur ein einziges Wort wirbelte durch die Leere in seinem Hirn. Marie. Er hätte schreien mögen.
»Du freust dich ja gar nicht.« In den Augen der Mutter meldete sich Sorge.
»So, jetzt pass mal gut auf, du! Es war schwierig genug, dich dort unterzubringen, mit deinen Zeugnissen und deinem Verhalten. Es wird mich eine Stange Geld kosten. Und aus diesem Grunde wirst du alle Angebote dort nutzen. Du wirst also in Buldern wohnen.«
»Gottfried!?« Die Mutter riss die Augen auf.
»Halt den Mund. Es ist besser so.«
Henry sah die Falte zwischen den Brauen seines Vaters. Mutter war in sich zusammengesunken, malträtierte ein Nagelbett und schwieg. Aber es interessierte ihn nicht. Jetzt nicht. Marie, die Schöne, die Einzige. Seine Marie. Er würde nie mehr heimlich ihren Arm streifen können, nie mehr ihren Nacken mit den Augen nachzeichnen, in der Religionsstunde. Zorn erfasste ihn so unvermittelt, dass er aufsprang und seinen Stuhl umriss. Er funkelte seinen Vater an.
»Nie! Niemals! Von mir aus kannst du selber auf das verfickte Internat gehen.« Er drehte sich um und schoss davon. Dann rannte er. Rannte. Die Auffahrt hinab, die Straße zwischen den Büschen entlang, den Feldweg, bis seine Beine zitterten. Tränen strömten über sein Gesicht. Wut und Hilflosigkeit. Er stieß einen Schrei aus, und die Lerche schwieg. Verzweiflung lähmte seinen Schritt. Mühsam schleppte er sich den Häusern entgegen. Er würde niemals auf das verdammte Internat gehen. Lieber packte er seine Klamotten und haute ab. Aber wohin? Vielleicht würde Jonas ihn aufnehmen. Sicher würde er das. Er packte am besten sofort. Der kleine Lichtblick trieb ihn an.
Als er in den Hexenweg einbog, sah er ihre zierliche Gestalt von weitem. Marie. Er spurtete auf sie zu, wischte sich die Wangen trocken und stoppte unvermittelt.
»Hallo.« Marie
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