Freitags Tod
vergessen.«
»Was denn, verdammt?«
»Den Termin bei Dr. Dreischkamp.«
Sophie geht zum CD-Player, wechselt die CD und drückt auf »Play«. Die Rhythmen bringen das Leben zurück.
»Ich wüsste nicht, was ich da sollte.«
Mutter zupft wieder an ihren Nagelhäutchen. Das tut sie immer, wenn sie nervös ist. Und es regt Sophie auf, wenn sie das tut.
»Du wirst doch jetzt kein Kind kriegen wollen, Sophie.«
»Was denn für ein Kind? Bist du bescheuert?«
Dauernd hat Mutter ihr in den Ohren gelegen, sie solle sich untersuchen lassen, schließlich sei sie nicht reif, um Mutter zu werden, und sie sähe sich außerstande, ihren Enkel zu betreuen, einen Enkel, der …
»Schau dich doch mal an. Dein Gesicht ist runder geworden, keine Pickel mehr, die ständige Übelkeit. Du kannst das Kind nicht kriegen.«
»Ich bin nicht schwanger. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Und wenn ich es wäre, würde ich das Kind bekommen. Dann hätte ich endlich jemanden, der mich liebt.« Sophie starrt der Mutter ins Gesicht und wartet auf eine Reaktion. Die aber senkt den Blick und ringt die Hände. Sophie hasst das. Wenn sie nur weg könnte. Was sollte sie auch hier? Die Scheißlehrstelle bei dem dürren Anwalt hatte ihr eh nichts gebracht, und der Job in der Bäckerei … Brötchen schmieren für die LKW-Fahrer, morgens um halb drei aufstehen dafür und sich blöd anmachen lassen, weil man angeblich zu langsam war. Das hatte sie sich zwei Tage lang angeguckt, und dann war Schluss.
»Du kannst gehen, Mutter.«
Wenn sie ein Kind hätte, das wäre gut. Natürlich braucht sie keinen Arzt, um herauszufinden, ob sie schwanger ist. Die Mutter blickt sie lange an. Das Blau ihrer Augen ist heller als das von Tom.
»Du kannst gehen. Ich bleibe hier, außerdem bin ich verabredet.«
»Mit wem?«
»Das geht dich einen Scheißdreck an!«, brüllt Sophie. Ihre Mutter weicht zwei Schritte zurück, dann schlüpft sie durch die Tür. Sophie atmet auf und lässt die Musik in sich hinein.
Draußen scheint die Sonne immer noch. Als sie das Fenster öffnet, kommt nur Wärme herein, Schweiß klebt ihr das Haar in den Nacken. Sie muss duschen, obwohl sie heute schon zweimal geduscht hat. Aber das hat nichts mit der Wärme zu tun, das weiß sie. Es hat mit den Bildern zu tun. Viele Bilder, die immer wiederkommen. Vaters Gesicht im Zorn, Vaters Gesichter …
Die Haustür krachte ins Schloss und die Schultasche schlitterte über den schwarz-weiß gefliesten Boden.
»Mama?« Sophie lugte in die Küche. Der Einkaufskorb stand auf dem Küchentisch. In der Diele war es angenehm kühl und still. Die Nachmittagssonne warf ein warmes Licht durch die Fenster. Sophies Locken hüpften auf den Schultern im Rhythmus ihrer Schritte die Treppe hinauf.
»Hallo, ich bin da«, rief sie und riss die Tür zum Zimmer ihres Bruders auf.
»Henry?« – Nichts.
Wo waren die alle? Sie musste es doch jemandem erzählen. Unbedingt! Sie hatte noch nie eine Eins in Deutsch. Heute hatte sie eine, nach all den Stunden, die sie sich mit der Vorbereitung auf den Test gequält hatte.
»Hallo!« Sie legte die Hand auf die Klinke der Tür zu ihrem Zimmer, als sie ihr plötzlich aus der Hand glitt und ihr Vater, groß und grau, den Rahmen ausfüllte.
»Wo kommst du her?« zischte er.
Sophie sah an ihm empor und bemerkte die schmalen Schlitze seiner Augen.
»Aus der Schule.« Blitzartig erkannte Sophie, dass sie weg musste. Sie trat zurück, bis sie das Geländer der Empore im Rücken spürte. Seinem Blick konnte sie sich nicht entziehen.
»Aus der Schule? Du mieses, kleines Miststück!« Seine Finger griffen in ihr Haar und zerrten sie in den Raum.
»Nein!« Die Kopfhaut brannte, und Tränen schossen ihr in die Augen.
»Du verlogenes Luder. Aus der Schule, was?«, schrie er, stieß sie aufs Bett.
»Und was ist das?« Er beugte sich über ihren Körper und drückte Sophies Gesicht in die Kissen. Sie berührte etwas Glattes, das sich nicht an Stirn und Nase anschmiegte, während sie versuchte, Luft durch den Mund zu holen. Aber der Mann, der ihr heute Morgen freundlich zugewinkt hatte, als sie sich aufs Rad schwang, presste ihren Kopf so fest nach unten, dass ihr Brustkorb verzweifelt nach Atem rang. Sie versuchte den Kopf zu drehen, hörte nur, wie eine Strähne sich von der Kopfhaut löste, den Schmerz spürte sie nicht. Ihre Beine und Arme führten ein zappelndes Eigenleben, als er sie am Haar hochriss. Scharf strömte Luft in ihre Lungen.
»Was – ist – das?«
Weitere Kostenlose Bücher