Fremde am Meer
besser ging es voran. An den Wochenenden nahmen wir oft etwas zu essen mit und blieben den ganzen Tag. Wir luden nie jemand anderen ein, uns zu begleiten, nicht einmal George. Wahrscheinlich fragte er sich insgeheim, was wir taten – was uns so beanspruchte. Aber er fragte nie. Es erschien uns auch nicht richtig, jemanden mitzunehmen, ehe wir fertig waren.
Eines Tages kehrten wir später nach Hause zurück als üblich, und als wir im Halbdunkel am Küchentisch saßen und aßen, schaute Ika mich plötzlich an. »Anschauen« ist vielleicht nicht das passende Wort, denn es war nur ein sehr kurzer Blick, den er schnell wieder senkte. Trotzdem überraschte er mich.
»Hast du Kinder?«
Ich war vollkommen unvorbereitet auf diese Frage und verschluckte mich an meinem Tee. Langsam setzte ich den Becher ab und versuchte, mich zu sammeln.
»Nein«, sagte ich. »Ich hätte gern welche gehabt, aber es hat sich nie ergeben.«
»Hast du eine Mum und einen Dad?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, die sind schon lange tot.«
»Eine Schwester oder einen Bruder?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Nein«, sagte ich und zögerte einen Moment. »Doch, ich hatte einen Bruder, aber ich habe ihn verloren«, erklärte ich schließlich.
Es folgte eine längere Pause.
»Ich kann dein Kind sein. Und dein Bruder, wenn du willst.«
Sein Blick blieb hartnäckig auf seinen leeren Teller gerichtet.
»Würdest du das wollen?«, fragte ich, und es wurde ein Flüstern daraus, weil ich meiner Stimme nicht ganz traute. »Weißt du, Ika, das wäre das Allerbeste, was mir passieren könnte. Das Allerallerbeste.«
Er nickte.
Und ohne ein weiteres Wort nahm er seinen Teller, ging hinüber zur Spüle und stellte ihn hinein. Dann verließ er die Küche.
Ich hörte, wie er sich die Zähne putzte und sich in seine kleine Kammer zurückzog.
Nach einer Weile stand ich auf und ging in mein Schlafzimmer. Ich bückte mich und klopfte leise an die Tür, die uns trennte.
Von der anderen Seite kam ebenfalls leises Klopfen.
»Ich – wollte – verdammt – noch – mal – nie – ein – Kind!«
Die Worte kommen abgehackt heraus, fast im Flüsterton, und doch dröhnen sie lauter als alles, was sie je gehört hat.
Sie kniet vor dem Puppenhaus auf dem Boden. Das Parkett ist kalt an ihren Schienbeinen, und sie zittert ein bisschen. Sie schaut auf die winzigen Menschen, die in dem Haus leben: eine Mutter, ein Vater, ein kleines Mädchen. Und ein Baby. Sie hat im Wohnzimmer Licht gemacht und die Mutter ans Klavier gesetzt. Das Baby liegt oben im Kinderzimmer in seiner Wiege, und das kleine Mädchen hockt neben dem Klavier auf dem Fußboden. Sie weiß noch nicht genau, wo sie die Vaterpuppe platzieren soll. Sie hält sie in der Hand, als aus der Küche plötzlich Hans’ Stimme ertönt.
»Deins, das war in Ordnung. Darauf hatten wir uns geeinigt. Aber ich wollte NIE ein eigenes. NIEMALS! Damit machst du alles kaputt.«
Sie hat ihn noch nie so sprechen hören. Und er sagt weiter Dinge, die sie nicht hören will. Obwohl er die Stimme nicht hebt, fühlt es sich an, als ob er schreit. Am liebsten würde sie weinen, doch sie ist so erschrocken, dass ihr schon allein das Atmen Mühe macht. So sitzt sie kalt und starr da und ist nicht einmal zu der geringsten Bewegung imstande. Ihre Fingerspitzen kribbeln, und als sie auf ihre Hände schaut, sieht sie, dass sie die Vaterpuppe in ihrer geballten Faust zerquetscht hat.
Mutter bekommt ein Baby. Das weiß Marianne, weil Mutter es ihr erzählt hat. Sie ist gestern in Mariannes Zimmer gekommen und hat sich auf ihr Bett gesetzt, eins der Kissen genommen und an ihre Brust gedrückt.
»Ich kriege ein Baby, Marianne«, hat Mutter leise und ohne sie anzusehen gesagt. Und dann saß sie nur da mit dem Kissen in den Armen und gesenktem Kopf, und beide schwiegen. Aber Marianne spürte, dass etwas Außergewöhnliches geschah. Es war, als ob sich langsam, ganz langsam etwas Helles und Warmes in ihr ausbreitete. Es würde nicht mehr nur sie geben, sondern noch jemanden. Eine Schwester. Oder einen Bruder. Sie würden zu zweit sein.
Lächelnd schaute sie zu Mutter auf. Und ihr Lächeln erstarb, denn Mutter weinte. Sie drückte das Kissen und stöhnte und wiegte sich hin und her, als hätte sie Schmerzen. Marianne verstand das nicht. Sie wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte. Wartend stand sie neben dem Bett. Schließlich streckte Mutter die Hand aus und ergriff ihre.
»Du wirst mir helfen müssen, Marianne«, sagte
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