Fremde am Meer
sie. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Marianne nickte. Sie lächelte nicht mehr, aber die Wärme und die Helligkeit waren immer noch in ihr.
»Ich helfe dir, Mutter«, sagte sie. Sie setzte sich neben Mutter, und Mutter legte ihr die Hand in den Schoß. Sie wollte, dass Mutter die Wärme spürte, und rückte näher und schlang ihr die Arme um die Taille. So saßen sie lange da.
Jetzt, auf dem Boden hockend, die Ohren gespitzt, obwohl sie nichts hören will, versucht sie, diesen Moment wiederzubeleben. Und es gelingt ihr. Das warme Licht ist in ihr, und nichts kann es ihr wegnehmen. Nicht einmal jene grässlichen geflüsterten Worte.
Sie hört die Wohnungstür mit einem Knall zuschlagen, der noch lange in den Räumen nachhallt. Und nun kann sie sich endlich wieder bewegen. Langsam geht sie in den Flur. An der Küchentür bleibt sie stehen. Mutter sitzt am Tisch, das Gesicht dem Fenster zugewandt. Es ist Mittag, aber sie trägt immer noch ihren rosa Morgenmantel. Ihre Hände liegen flach vor ihr. Die Stille ist schrecklich, und diese Stille gehört zu Mutter. Marianne steht draußen und sieht zu.
Eine ganze Ewigkeit balanciert sie mit nackten Füßen auf der hölzernen Schwelle.
Dann dreht Mutter den Kopf in ihre Richtung und blickt sie an. Sie erkennt, dass Mutter wieder geweint hat. Auf ihrer Wange ist ein leuchtend roter Fleck, und sie hebt die Hand, als wolle sie ihn verdecken, dann lässt sie sie wieder auf den Tisch sinken. Sie sind wie erstarrt, Mutter auf dem Stuhl, Marianne in der Tür.
Marianne macht einen zögernden ersten Schritt und geht langsam auf Mutter zu. Als sie den Tisch erreicht hat, breitet Mutter die Arme aus und zieht sie an sich. Sie gräbt ihr Gesicht in den weichen rosa Stoff und kann Mutters Parfüm riechen. Mutter schlingt ihre Arme um Marianne, und es fühlt sich an, als würden sie eins. Mutter legt ihr das Kinn auf den Kopf. Sie spürt, wie Tränen auf ihr Haar fallen.
»Es wird ein wunderschönes Baby werden«, sagt Marianne leise.
Mutter antwortet nicht, drückt sie nur weiter fest an sich.
»Ja, Marianne, es wird ein wunderschönes Baby werden«, sagt sie nach langem Schweigen. »Und du hilfst mir doch, oder?«
Marianne presst sich an Mutters Brust, sodass sie ihren Herzschlag spüren kann. Sie möchte, dass dieser Augenblick sehr lange dauert. Sie hält die Luft an und versucht, absolut still zu sein, denn sie weiß, dass schon die geringste Bewegung, das leiseste Geräusch ihn beenden wird.
Danach ist nichts mehr, wie es war. Alles hat sich verändert; es ist, als wäre sie ihrer Mutter plötzlich viel näher. Sie sind zusammen, nur sie beide, in dieser neuen Welt. Nicht freiwillig, sondern weil sie müssen. Für sie beide gibt es sonst nichts.
Die große Wohnung ist jetzt nicht mehr nur fremd und öde. Sie ist auch gefährlich.
Trotzdem trägt sie tief in sich diese neue Wärme.
Eine Schwester.
Oder einen Bruder.
15
Allmählich fanden Ika und ich zu einem für uns beide angenehmen Rhythmus. Wochentags holte ich ihn immer von der Schule ab, und danach widmeten wir uns meistens unserem Projekt. Wenn wir zu Hause waren, spielte er entweder Klavier oder hörte in seinem Zimmer Musik. Ich hatte ihm einen kleinen tragbaren CD -Player gekauft, aber er schien meinen Computer vorzuziehen. Das freute mich, denn es bedeutete, dass wir den Melodien zwar nicht gemeinsam, aber zumindest gleichzeitig lauschten.
Seine Hausaufgaben waren ein Quell der Frustration. Ich hatte seine Lehrerin eine Woche, nachdem er bei mir eingezogen war, kennen gelernt. Sie schien recht nett zu sein, aber auch ein wenig zurückhaltend und unbestimmt, als übernähme sie nur widerwillig ihren Anteil an Ikas Erziehung. Ich hatte den Eindruck, sie war erleichtert, dass sie nicht mehr allein für Ika verantwortlich war. Ika seinerseits äußerte nie, wie ihm die Schule gefiel. Wie jede Mahlzeit schien er sie mit einer Art neutralem Desinteresse zu akzeptieren. Er zeigte nie den Wunsch zu schwänzen, aber auch keine Begeisterung, wenn er morgens aufbrach. Er erzählte nie von sich aus etwas über den Unterricht, und seine Antworten auf meine Fragen waren einsilbig.
Trotzdem entdeckte ich bald, welche Talente er besaß. Er war sehr gut im Zeichnen. Nichts Figürliches, sondern geometrische Formen. Er zeichnete sie in der richtigen Perspektive und mit vielen Details. Doch sie waren nicht lebendig – das kreative Element fehlte. Außerdem hatte er eine unheimliche Begabung, Dinge auswendig zu
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