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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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lernen. Manche Dinge, Texte, die rhythmisch waren. Allerdings kam es mir vor, als ob ihn ihr Inhalt gar nicht interessierte, sondern nur ihre formale Struktur.
    Wenn ich ihm Geschichten oder Zeitungsartikel vorlas, schien er nicht zuzuhören. Ich war mir nicht sicher, ob er im eigentlichen Sinne des Wortes lesen konnte. Er kannte die Buchstaben des Alphabets, das wusste ich. Aber es war schwer zu sagen, ob er die in den Sätzen enthaltenen Botschaften verstand. Er bat mich nie, ihm vorzulesen. Erst als mir eines Tages mein altes, ramponiertes Märchenbuch in die Hände fiel, das einzige Überbleibsel aus meiner frühen Kindheit, schien sich etwas zu ändern.
    Nachdem wir aus meiner Kleiderkammer ein Zimmer für Ika gemacht hatten, war ich gezwungen gewesen, meine Sachen durchzusehen, und hatte mich langsam durch Schränke und Schubladen gearbeitet, bis ich schließlich bei den Bücherregalen im Wohnzimmer angelangte. Ich kniete auf dem Boden und schlug das Buch mit den vielen Eselsohren auf. Ich hielt es an mein Gesicht, atmete den trockenen Geruch ein und strich mit der Hand über die Seiten. Es hatte sich von selbst am Anfang meiner Lieblingsgeschichte geöffnet, »Lasse aus Rosengard«. Obwohl mein Großvater damit begonnen hatte, sie mir vorzulesen, als ich noch sehr klein war, hatte er nie versucht, die beängstigenden Stellen zu überspringen oder zu beschönigen. Allerdings saß ich auch immer auf seinem Schoß, wenn er las.
    Da hockte ich nun auf dem Boden, eine Frau mittleren Alters in einem Haus auf der anderen Seite der Erdkugel, und alle mit den Worten assoziierten Empfindungen, die so lange verdrängt gewesen waren, stiegen wieder in mir auf. Ich las und erinnerte mich daran, wie viel Angst mir die Geschichte gemacht, aber auch, wie sicher ich mich in Großvaters Armen gefühlt hatte. Mir war nicht aufgefallen, dass Ika das Zimmer betreten hatte, doch plötzlich bemerkte ich, dass er neben mir stand.
    Ich schaute auf.
    »Dieses Buch besitze ich, seit ich ein kleines Mädchen war«, sagte ich und hielt es ihm hin. »Mein Großvater hat mir oft daraus vorgelesen.«
    Wie es seine Art war, entgegnete Ika nichts, sondern ging zum Sofa und setzte sich hin.
    »Soll ich dir ein bisschen vorlesen?«, fragte ich. Er antwortete nicht, rückte aber ein Stück zur Seite, als wollte er, dass ich neben ihm Platz nahm. Nicht zu nahe, aber doch auf dem Sofa. Ich setzte mich in einem Abstand zu ihm hin, der uns beiden angenehm war.
    Und so fing ich an, ihm vorzulesen. Langsam, denn ich musste dabei ja aus dem Schwedischen übersetzen. Er zeigte keine Ungeduld, sondern saß absolut still da, fast ohne zu blinzeln. Seine Miene blieb ausdruckslos, wie üblich. Nach einer Weile war ich zu vertieft in den Text, um meine Umgebung wahrzunehmen. Als ich irgendwann innehielt und aufschaute, sah ich, dass Ika die Arme um sich geschlungen hatte und sich leicht wiegte. Mich überkam eine beinahe unwiderstehliche Sehnsucht, ihn an mich zu ziehen und in die Arme zu schließen.
    »Soll ich aufhören?«, fragte ich stattdessen. »Macht dir die Geschichte Angst?«
    Er antwortete nicht, bewegte nur leicht den Kopf. Es war schwer zu erraten, was er damit ausdrücken wollte.
    »Lies«, sagte er schließlich.
    Und ich fuhr fort.
    »Und Großmutter hatte Recht. Frau Scheusal ließ Lasse nicht in Ruhe. Jedes Mal, wenn Lasse durch den Wald ging, hatte sie sich hinter einem Felsen oder einem Baumstamm versteckt und wartete auf ihn. Er sah sie nie richtig, doch er wusste, dass sie da war und jederzeit über ihn herfallen konnte. Na und?, könnte man sagen. Er hätte sie doch sicher auffordern können, sich zu verdrücken und ihn in Ruhe zu lassen? Ja, das hätte man meinen können, aber Frau Scheusal ist keine normale Frau – sie ist eine der schlimmsten Hexen auf Erden. Und sie hat schon größere Helden als Lasse aus Rosengard in die Flucht geschlagen.«
    Ich klappte das Buch zu. Ika streckte eine Hand aus, und ich reichte es ihm. Er fuhr mit seinen Fingern über den Buchdeckel, dann schlug er es auf und begann, darin zu blättern. Nach diesem ersten Mal wurde die Geschichte von Lasse sein Lieblingsmärchen. Ich musste sie ihm immer wieder vorlesen. Er schien sie nie sattzubekommen und stets mit voller Aufmerksamkeit zu lauschen. Anfangs versuchte ich, mit ihm über die Handlung zu reden, doch mir wurde schnell klar, dass er daran kein Interesse hatte. Er wollte mich einfach vorlesen hören. Also war es unmöglich, in Erfahrung zu bringen, wie

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