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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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der Schränke, zog mir einen Stuhl heran und stieg hinauf. Selbst vom Stuhl aus hatte ich Mühe, den Karton zu erreichen.
    Er war kleiner als Ikas, und mir wurde klar, dass Ika mehr Andenken besaß als ich. Mein Karton war eine flache Schachtel, die nur einen Gegenstand enthielt.
    Eine Ausgabe des TIME -Magazine.
    Es ist noch Zeit für einen Spaziergang vor Einbruch der Dunkelheit. Sie gehen langsam, es ist keine Wanderung mit einem bestimmten Ziel. Die Landschaft mit den sanft gerundeten baumlosen Hügeln ist karg. Aus der Ferne sehen sie aus wie smaragdgrüner Samt, zusammengeknüllt von der Hand eines Riesen. Von nahem ist die Vegetation jedoch viel gröber, das Gras durchsetzt mit Stechginster und spitzem Flachs. Es kommt ihr vor, als könne sie ewig weit sehen und als seien Land und Meer gleichermaßen unendlich.
    Plötzlich zeigt er in den Himmel. Sie bleiben stehen und schauen nach oben. Hoch über ihnen wellt sich ein zarter Schleier aus Pünktchen, der ständig seine Form verändert.
    »Da sind sie, unsere Pfuhlschnepfen. Die Kuaka.«
    Die winzigen schwarzen Flecken sind Vögel. Aber aus dieser Entfernung bilden sie ein wundersam schwebendes Ganzes von eigenartiger Schönheit.
    Sie setzen sich hin und beobachten, wie der Vogelschleier über ihnen anmutig wogt und schwingt.
    Dann spürt sie seine Hand auf ihrem Nacken, die ihre Haare anhebt. Er streicht über ihre Schulter, ergreift sie und zieht sie an sich.
    Hatte sie das erwartet? Es sich gar gewünscht?
    Sie hat keine Ahnung. Ihr Körper scheint zu wissen, was ihr Verstand nicht weiß.
    Als er sie küsst, ist es das Natürlichste auf der Welt. In dieser verzauberten Welt, die sie betreten hat, ist alles möglich. Vielleicht ist genau das ihr Zweck. Es hat keinen Sinn zu widerstehen.
    Und das tut sie auch nicht.
    Sie umfasst sein Gesicht und schaut ihm in die Augen. Sie sind grau, und sie meint, sich in ihnen gespiegelt zu sehen. Dann küsst auch sie ihn.
    Er nimmt eine ihrer Hände, öffnet sie und küsst ihre Handfläche.
    »Es gibt weiß Gott magische Begegnungen«, sagt er lächelnd. »Wir müssen nur offen für sie sein. Nehmen, was uns geboten wird.« Erneut küsst er ihre Hand.
    Sie lacht, hebt ihr Gesicht zum Himmel. Er küsst sie auf den Hals.
    Später gehen sie zurück und beginnen, das Abendessen vorzubereiten. Er setzt seinen kleinen Grill in Gang.
    »Kein Lagerfeuer – das ist hier zu gefährlich«, sagt er.
    In der Kiste des Farmers haben sie auch Fleisch gefunden. Zwei kleine Lammkarrees und ein großes Stück Speck.
    Während das Lamm gart, macht er einen Salat, und sie öffnet zwei Dosen Bier.
    »Das sind die letzten kalten, also genieße es«, sagt er. »Von jetzt an heißt es lauwarmes Bier oder Rotwein.«
    Sie sitzt auf dem Gras, trinkt von ihrem Bier und sieht zu, wie er Gemüse hackt und den Salat mischt und das Fleisch wendet. Sie erinnert sich an den Moment, in dem sie auf ihn gestoßen war. Wie sie ihn da zuerst als Objekt wahrgenommen hatte, vollkommen wie ein blanker Kiesel oder ein glattes Stück Treibholz. Etwas, das den instinktiven Drang in ihr geweckt hatte, es zu berühren.
    Also tut sie es. Sie beugt sich vor und streicht ihm mit der Hand über den Rücken. Er ist mit dem Salat beschäftigt, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sie gewähren zu lassen. Seine Haut ist warm, und winzige Schweißtropfen ziehen sich seine Wirbelsäule entlang. Sie küsst ihn zwischen die Schulterblätter.
    Da lässt er alles stehen und liegen, dreht sich um und küsst sie.
    Mit der Zeitschrift auf dem Schoß saß ich auf meinem Bett. Die Lampe an der Decke hatte ich ausgeschaltet und mir nicht die Mühe gemacht, die auf dem Nachttisch einzuschalten. Ich brauchte kein Licht. Das hier konnte ich mit den Händen lesen. Ich hatte das Magazin nicht aufgeschlagen und die Handfläche auf das Titelblatt gelegt. Ich wusste, wie das Bild aussah. Ich konnte jedes Detail ertasten.
    Es war ein Foto von mir. Und doch war ich es nicht. Es war das Foto von einer Frau, die ihren Gefühlen und Instinkten vertraute. Die glaubte, das Leben könne wie durch ein Wunder eine Neunzig-Grad-Kurve nehmen und ihr eine neue Welt eröffnen. Eine Welt, in der Pfuhlschnepfen über ihr schwebten und unbeschwertes Gelächter von ihren Lippen aufstieg.
    Eine absolut irreale Welt.
    Sie gewöhnt sich an die Kamera, die für sie quasi zu einer Verlängerung von ihm wird, und sie entspannt sich. Sie hat das Gefühl, dass sie anfängt zu sehen, was er sieht. Sein Objektiv

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