Fremde Federn
ihre Familie zu sorgen, aber ihr blasses und abgehärmtes Gesicht strafte ihre Worte Lügen.
Das Wasser tropfte aus Pauls nassen Schuhen und von seinem Filzhut, als er die Stufen hinaufsprang. Er hoffte dringend, daß sich die Schlechtwetterperiode nicht auch noch auf den Herbst ausdehnte. Er sollte nämlich die Manöver des deutschen Heeres in Bayern filmen. Man hatte ihn eingeladen, weil der deutsche Generalstab auf ihn und sein Buch aufmerksam geworden war. Der Generalstab schätzte Propaganda und umwarb alle, die dazu beitrugen. Kaiser Wilhelm liebte das Soldatenspiel, er nahm alljährlich an den Manövern teil.
Für die Engländer war der Kaiser das leibhaftige Symbol der »deutschen Gefahr«. Er wurde nicht müde, seine Freundschaft mit England zu beteuern. War nicht seine Großmutter die verstorbene Königin Victoria und König George V. sein Cousin ebenso wie der russische Zar Nikolaus? Michael Radcliffe machte sich lustig über diese Familienbande. »Eine faule Brut von Blutern und paranoiden Kriegshetzern, die vorgeben, die besten Freunde zu sein, während jeder bloß darauf wartet, daß er dem anderen den Dolch in den Rük-ken stoßen kann.«
Michael hatte recht, den europäischen Monarchen zu mißtrauen. Hinter ihren Freundschaftsbezeugungen lauerte erbitterte Feindseligkeit. Kaiser Wilhelm II. hatte am offenen Grab seines Onkels getrauert, ihn aber hinterrücks als »Satan« und »den schlimmsten Intriganten Europas« bezeichnet. Der Ausbau der deutschen Marine schien ebenfalls gegen England gerichtet. Großadmiral Tirpitz baute jedes Jahr zwei neue Schlachtschiffe. Der Kaiser erklärte immer wieder, sie dienten nur dazu, sich im Notfall gegen ungenannte Feinde verteidigen zu können, aber ein Großteil der britischen Bevölkerung, darunter auch viele Diplomaten aus Whitehall, waren der Meinung, daß sich diese Kriegsflotte irgendwann gegen ihr Land wenden würde. Die Regenbogenpresse war voll von phantastischen Berichten mit Überschriften wie »Krieg unausweichlich« und »Wie die Deutschen London eroberten«.
»Guten Morgen, Miss Epsom«, grüßte Paul, als er das Vorzimmer betrat und sich noch einmal schüttelte. Miss Epsom, etwa fünfzig und unverheiratet, grüßte ihrerseits mit einem freundlichen Nicken, um sofort, als er ihr den Rücken zuwandte, Wassertropfen von einer Wange abzutupfen. »Ist er schon da?«
»Seit zwanzig Minuten, Sir.«
Paul hängte Hut und Schirm auf und schritt in Richtung innerer Tür. »Würden Sie uns bitte Tee bringen?«
»Sofort. Ich möchte jedoch sagen, daß der junge Mann nicht den Eindruck macht, als sei er Teetrinker.«
Anhaltende Rückenschmerzen und Julies sanftes Drängen hatten Paul schließlich von der Notwendigkeit überzeugt, einen Gehilfen einzustellen. Der Bewerber, der in seinem Büro wartete, war der siebzehnte, der sich auf die Anzeige gemeldet hatte; die ersten sechzehn waren nicht in Frage gekommen. Zwei waren ausgemachte Schwachköpfe gewesen, einige hatten zwar Hunger, waren aber nicht am Filmgeschäft interessiert, andere waren Lügner und Schwindler, die sich nach wenigen technischen Fragen entlarvten. Der Rest waren angenehme Zeitgenossen, aber untauglich aus dem einen oder ande-ren Grund.
»Guten Morgen, bitte entschuldigen Sie die Verspätung.« Pauls überquellendes Büro harmonierte wunderbar mit seinen gebogenen Kragenspitzen, der schiefhängenden Krawatte, seinen ausgebeulten Taschen, seinem insgesamt nachlässigen Aussehen.
Der junge Mann, der von einem Fuß auf den anderen trat, die Mütze in der Hand, war dunkelhäutig und dünn wie eine Bohnenstange. Auf seinem Kinn blühte ein Pickel, dick wie eine Rosine. Sein schwarzes Haar war fettig. Paul bemerkte die schwarzen Ränder unter den Fingernägeln.
»Ich hab’ hier irgendwo Ihren Namen.« Paul wühlte sich durch das hoffnungslose Durcheinander von Filmdosen, Produktionsplänen, Rechnungen, Mitteilungen von seinem Arbeitgeber Lord Yorke und Kabelnachrichten aus dem Büro in New Jersey, Fachzeitschriften, Londoner sowie internationalen Zeitungen und vielen anderen Dingen, die mit seinem Beruf zu tun hatten.
»Silverstone, Chef. Samuel G. G. für Garfunkel, Silverstone. Aber man nennt mich Sammy.«
»Bitte setzen Sie sich, Sammy.« Das unruhige Auf-der-Stelle-Treten machte Paul nervös. Wie durch ein Wunder fand er einen Bleistift und auch noch eine unbeschriftete Karteikarte. »Wie alt sind Sie?«
» Zweiundzwanzig.«
»Haben Sie irgendwelche Zeugnisse?«
Sammy holte einen
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