Fremde Federn
verwegensten Träume verwirklichen kannst, wenn du hart arbeitest. Deshalb blicke nach vorne, dort liegt die Zukunft<« - Harry deutete mit dem Finger -, »>vor dir. Du wirst sie niemals finden, wenn du zurückschaust.<«
Harry merkte, daß Fritzi schwieg und Paul nachdenklich an seiner Zigarre zog, deren brennendes Ende hell leuchtete, und lachte leicht verlegen. »Ich wollte euch mit meiner Philosophie wirklich nicht die Stimmung verderben. Bitte verzeiht!«
Ohne zu überlegen, legte Fritzi ihre Hand auf die seine, die auf der Reling lag. »Was Sie gesagt haben, hat mir gut gefallen.« Auch Paul äußerte knapp Zustimmung; Fritzi war, als habe sie einen jähen leuchtenden Schimmer in seinen Augen entdeckt.
Der Ausflugsdampfer fuhr in einem langgezogenen Bogen in den Hafen ein, um zur Anlegestelle zurückzutuckern. Inzwischen war es dunkel geworden. Die Stimmen wurden leiser, teilweise übertönt vom Dröhnen der Schiffsmotoren. Vor ihnen tauchte das glitzernde New York aus der Dunkelheit auf. Fritzi hörte das Murmeln der Männer, aber sie war zu weit weg, um etwas zu verstehen, sie stand allein und lauschte im Geiste noch einmal Harrys Stimme.
Deshalb blicke nach vorne, dort liegt die Zukunft, vor dir. Du wirst sie niemals finden, wenn du zurückschaust.
Die Zweiundzwanzigste Straße West war düster und leer. Die Schatten von Fritzi, Paul und Harry fielen auf den Gehsteig, als sie sich im Schein der Straßenlaternen näherten. Ein Droschkengaul kam langsam auf sie zugetrottet; der Kutscher nickte immer wieder ein, als er mit seinem Wagen an ihnen vorbeifuhr. Irgendwo heulte eine Feuersirene. Die Luft war kühler.
Auf dem Treppenabsatz vor ihrem Haus verabschiedete sich Fritzi von Paul mit einer Umarmung. Paul trat zurück und fächelte sich mit seinem am Rand zerfetzten Hut Kühlung zu.
»Du liebst diese Stadt, nicht wahr?«
»Teilweise«, sagte sie und dachte flüchtig an Pearly.
»Und wie steht’s mit Kalifornien?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Ich nehme an, Harry wünscht sich, daß du hierbleibst. Ich glaube kaum, daß du einen glühenderen Verehrer hast als ihn.« Fritzi lachte, um nicht näher darauf eingehen zu müssen. »Aber entscheiden kannst nur du. Es hat mich beeindruckt, daß der Kellner dich erkannt hat. Du bist wirklich eine Größe im Film. Gibt es hier etwas, was genauso gut und wichtig für dich wäre?«
Schon wollte sie ihm eine passende Antwort über die Theater am Broadway geben, da wußte sie, daß er recht hatte: Im Film hatte sie etwas erreicht, was sie hier trotz all der Monate und Jahre ihrer entmutigenden Vorsprechtermine, Aushilfstätigkeiten und Entbehrungen nicht erreicht hatte; sie hatte nur hin und wieder eine Rolle in einem Flop bekommen.
Sie spürte die kühle Brise, die vom Hudson herüberwehte. Als sie den Kopf hob, meinte sie, ein geisterhaftes Geräusch zu hören, wie ein Schlüssel, der ein Schloß aufsperrte.
»Nein, Paul, nichts. Gar nichts. Ich werde nicht mehr in New York sein, wenn du aufs Schiff gehst. Ich gehe nach Kalifornien.«
TEIL FÜNF - Alptraum
Im letzten Juli des alten Regimes hatten nur die besten Kenner der europäischen Szene Einblick in die Böswilligkeit, den Haß und die Mordlust, die sich hinter diesen malerischen Fassaden zusammenbrauten ... In den Sommermonaten des Jahres 1914 verwandelte sich die musterhafte europäische Ordnung in ein apokalyptisches Inferno.
John Dos Passos,
Mr. Wilson’s War
Gott möge uns beistehen, wenn der eiserne Würfel rollt.
Theobald Bethmann-Hollweg,
Deutscher Reichskanzler,
1. August 1914
In Europa erlöschen die Lichter; sie werden zu Lebzeiten nicht erleben, daß sie wieder angezündet werden.
Sir Edward Grey, Britischer Außenminister, 3. August 1914
58. LOYAL
Wenige Tage in Los Angeles genügten, um Fritzi all das in Erinnerung zu bringen, was ihr gefehlt hatte: den Duft von Salbei, die leuchtende Farbe der Mohnblumen an den Berghängen, die saubere, klare Luft, die sich so sehr von dem verhangenen Himmel über Manhattan unterschied.
Hin und wieder dachte sie an Harry Poland, seinen Charme, seine bewundernden Blicke - die eigentlich nur für seine Frau bestimmt sein sollten, sagte sie sich und tadelte sich im stillen, wenn sich ihre Gedanken zu liebevoll mit ihm beschäftigten. Sie verstand Harrys Situation, aber ihr Verstand sagte ihr auch, daß diese Situation ihn unerreichbar machte.
Dann, im April 1912, ereignete sich etwas, was ihre Gedanken an Pauls Freund vertrieb und
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