Fremde Federn
drängte nach vorne, ergriff die Hand des Oberst. Einen Augenblick lang dachte Paul, er wolle den Siegelring des Offiziers küssen. Einige der Umstehenden murrten.
Der Offizier schnarrte dem Bürgermeister seine Befehle entgegen, gestikulierend verlangte er Quartier und Verpflegung. Ein ärmlich gekleideter Junge von etwa zehn Jahren löste sich aus der Menge. Der Junge hielt ein Holzgewehr in der Hand. Noch bevor seine Mutter ihn zurückhalten konnte, zielte er auf den Offizier und rief: »Peng, peng!«
Der verdutzte Offizier runzelte die Stirn. Auf deutsch sagte er zu seinem Adjutanten: »So was darf nicht einreißen. Die müssen Respekt haben. Schaffen Sie ihn weg!«
»Sofort, Herr Oberst.«
Der Adjutant schritt auf den Jungen zu, die Hand bereits an seiner Pistole. Jetzt richtete der Junge das hölzerne Gewehr mit »Peng peng!« auf ihn. Die Mutter des Jungen rannte auf das Kind zu, streckte die Arme aus, schrie. Sie war noch fünf, sechs Schritte von dem Jungen entfernt, als der Adjutant ihm seelenruhig eine Kugel durch den Kopf jagte.
Blut und Hirnmasse spritzten auf das Kopfsteinpflaster. Der Junge zuckte, bevor er wie eine Stoffpuppe ohne Inhalt zusammensackte. Der Adjutant pustete in die Mündung seiner Pistole, steckte sie weg und salutierte in Richtung seines Vorgesetzten. Der Offizier nickte kurz. Die Hose des Bürgermeisters zeigte einen nassen Fleck.
Paul konnte kaum atmen. Sammys Stimme zitterte, als er »Verdammte Scheiße!« flüsterte.
Die Mutter fiel neben dem Jungen auf die Knie. Fliegen setzten sich auf das vergossene Blut. Ein paar Dorfbewohner mit Stöcken und Steinen drängten nach vorne, aber auf einen Wink des Obersten zogen drei Männer in dem Stabswagen ihre Pistolen. Die Mutter schwankte hin und her und klagte laut: »Dieu, dieu. Fusille par les Allemands.« O Gott, o Gott. Von den Deutschen erschossen.
Die Deutschen zogen durch das Dorf, bis das Licht des langen Sommerabends erlosch. Paul war sprachlos angesichts der Zahl der Soldaten, des hervorragenden Zustands ihrer Ausrüstung und der Versorgungseinheiten - von Pferden gezogene Feldküchen mit rauchenden Schornsteinen, Krankenwagen, ein offener Wagen, in dem Schuster Stiefel besohlten, sogar ein Postamt auf Rädern. Bei Anbruch der Nacht schlugen sie ihr Lager auf, wo sie mit kräftigen Stimmen Trinklieder und Die Wacht am Rhein sangen. Paul näherte sich einem jungen Unteroffizier der Infanterie, der eine Postkarte schrieb, und fragte ihn, wie lange der Krieg dauern würde.
»Weihnachten sind wir in Paris. Kurz nach Neujahr sind wir wieder zu Hause.«
Paul und Sammy verließen das Dorf um Mitternacht auf ihrem Milchkarren, auf dem Kamera und Filmmaterial sicher versteckt waren.
Rauchwolken schwärzten den Himmel über Belgien. Wo die Deutschen auf Widerstand stießen, brannten sie zur Vergeltung alle Häuser nieder.
Paul und Sammy fuhren durch Felder, die von den Eisenrädern der Munitionswagen durchpflügt waren. Sie sahen blaue Bauernhäuser mit roten Dachziegeln, zerbrochenen Fensterscheiben, aus den Angeln gerissenen Türen. Sie sahen zertrampelte Gärten mit Stockrosen und andere, in denen rote Krautköpfe wie zermalmte Menschenschädel umherlagen. Paul filmte, wo er konnte, aber die hölzerne Moy war unhandlich und leicht auszumachen. Sie mieden die Hauptstraßen, um Begegnungen auszuweichen, bei denen ihre Papiere hätten begutachtet, befragt, ja konfisziert werden können.
In der Nähe eines Dorfes stießen sie auf Soldaten, die mit Hilfe von Pferden und Ketten Baumstämme von einer Straße zerrten. Gefällte Bäume waren die einzigen Hindernisse, welche die Belgier den Deutschen in den Weg legten. Nicht viel weiter leckten Flammen an der leeren Karosserie eines umgefallenen Autos.
Paul und Sammy versteckten den Karren und näherten sich dem Dorf zu Fuß. Paul hatte die Kamera ohne Stativ in eine Decke gehüllt unter dem Arm. Sammy trug ein zusätzliches Filmmagazin.
Als sie neben einer Scheune ein brachliegendes Feld am Dorfrand überqueren wollten, zog Sammy heftig an Pauls Arm. »Besser, wir verstecken uns, Chef.« Sie rannten in die Scheune und kletterten mit angehaltenem Atem auf den Heuboden. Von dort sah Paul eine Abteilung von Soldaten, die drei Männer und drei Frauen verschiedenen Alters auf das sonnenüberflutete Feld trieben. Ein junger Unteroffizier stolzierte den Zivilisten voraus, denen die Hände auf dem Rük-ken zusammengebunden waren.
»Meine Damen und Herren«, sagte der Unteroffizier mit
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