Fremde Federn
respektiert
Stärke. Wenn dir die Knie zittern, darfst du’s ihn nicht merken lassen. Du schaffst es. Wirklich, Schwesterchen, du bist doch Schauspielerin, oder etwa nicht. Spiel ihm was vor!«
Sie rannte auf ihn zu. »Oh, Carl! >Welch eine Unmöglichkeit wird er zunächst zustande bringen?<«
»Huch. Was war denn das?«
»Das sagt ein Mann namens Antonio in Der Sturm. Zweiter Akt, erste Szene. Paßt genau zu dir!« rief sie aus und warf ihm die Arme um den Hals. In spontaner Begeisterung schlang Carl seine Arme um sie und drückte sie an sich. Als er sie endlich freigab, war sie atemlos und rang nach Luft, aber sie hatte seit langem nicht mehr so viel Mut und Zuversicht verspürt.
9. DIE UNVERMEIDLICHE SZENE
Vorweihnachtliche Aufregung hatte auch das Haus der Crowns erfaßt. Fritzi stürzte sich aufs Einkaufen und durchstöberte Marshall Field’s und Fair and Carson’s auf der Suche nach passenden Geschenken. Sie ging wohlüberlegt mit ihren Ersparnissen um; die vierzig Dollar, die sie zurückgelegt hatte für eine Fahrkarte nach New York und die ersten Tage in der Stadt, bis sie Arbeit finden konnte, wurden nicht angerührt.
Jeden Morgen verließ Ilsa das Haus, um entweder Einkäufe zu erledigen oder bei Kinderparties im Hull House zu helfen oder um sich mit Freundinnen zu treffen. Fast jeden Abend besuchten sie und der General eine Party oder ein Bankett. Joe junior verschwand entweder nach dem Abendessen, oder er kam nach der Arbeit überhaupt nicht nach Hause, wodurch Carl und Fritzi Gelegenheit hatten, Dame zu spielen und stundenlang zu reden. Joe junior kam erst heim, wenn alle längst im Bett waren.
Sonntags gingen die Crowns zur Messe in die lutherische St.-Pauls-Kirche, auch das ohne Joey. Er gesellte sich auch nicht zu ihnen, wenn Fritzi im Musikzimmer Weihnachtslieder spielte und der General mit kräftiger Baritonstimme sang und Carl wie ein leidenschaftlicher, wenngleich stocktauber Stier mitbrüllte.
Am Mittwoch vor Weihnachten - alle vier Adventskerzen brannten auf dem Eßtisch - verließ Fritzi das Haus, um eine Fahrkarte für den New York Central Empire State Express zu kaufen. »Einfach und den Tageszug, bitte.« Sie hatte keine Lust, zusätzliches Geld für einen Schlafplatz auszugeben. Bei der Mortmain-Truppe hatte sie viel Erfahrung gesammelt, was das Schlafen im Sitzen anbetraf; sie wußte, wie man einen Platz in der Nähe der Heizung ergatterte und daß man Zeitungspapier als zusätzlichen Wärmeschutz benutzte.
Im Geiste ging sie immer wieder durch, was sie ihrem Vater sagen wollte, doch sie schob die Aussprache immer wieder hinaus. Joe Crown neigte zu Wutausbrüchen. Sie war versucht zu fliehen, ohne vorher mit ihm zu sprechen.
Nein, sagte Ellen Terry heftig:
Du weißt ganz genau, daß in guten Dramen bestimmte, unvermeidliche Szenen einfach gespielt werden müssen, weil alles auf sie hinführt. Sie wegzulassen wäre Betrug. Genauso ist es in einer Familie. Dein Vater ist kein Nebendarsteller, den man mit ein paar Zeilen in einem parfümierten Kuvert einfach von der Bühne schicken könnte. Der andere Grund, warum du mit ihm sprechen mußt, ist persönlicher Natur. Feigheit gehört sich nicht für die Mitglieder deiner Familie, und dazu gehörst auch du.
Also gut, am Samstag sollte es sein, bevor die Familie zur alljährlichen Weihnachtsfeier für die Angestellten der Brauerei aufbrach. Die Feier wurde jedes Jahr vom General ausgerichtet.
Am Samstag wachte Fritzi schon früh auf, ihr Magen drückte fürchterlich, ihre Handflächen waren jetzt schon feucht. Um vier Uhr begann sie sich anzuziehen. Es war ein klarer, kalter Nachmittag, der Himmel vor ihrem Fenster zeigte bereits die ersten winterlichen Sterne. Sie zwängte sich in ihr Abendkleid aus rotem Satin mit lose herabfallender, breiter Spitzeneinfassung am Ausschnitt. Ilsa hatte ihr das Kleid für die letztjährige Weihnachtsfeier gekauft.
Fritzis Hand fuhr nach hinten in den Nacken, um den Verschluß der engen Perlenkette zu schließen, die sie sich von ihrer Mutter geborgt hatte. Dann zerrte sie einen Kamm durch ihr zerzaustes Haar. Ihr Haar erinnerte an ausgefransten gelben Seilhanf. Sie warf den Kamm auf das Glas des Frisiertisches und streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus.
Eine Uhr auf dem Sims des kleinen Kamins zeigte halb fünf. Ihr Vater hatte die gemeinsame Abfahrtszeit auf sechs Uhr festgelegt. Fritzi ging davon aus, daß der General sie persönlich im Welch zur Schwäbischen Halle fahren würde; die
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