Fremde Federn
habe.«
Im Speisesaal des Ponchartrain nahmen sie ein üppiges Mahl zu sich, bestehend aus Braten, Kartoffeln, Mais, Blumenkohl und Sommerkürbis, Brötchen und Pumpernickel; begleitet wurde das Ganze von mehreren Krügen Bier. Paul wollte wissen, warum sich ausgerechnet Detroit zum Zentrum der Automobilindustrie entwickelt hatte, wo doch die ersten Herstellungsbetriebe über den Mittleren Westen bis nach Massachusetts verstreut waren.
»Es heißt, das sei deshalb gekommen, weil man hier Erfahrung in der Herstellung von Schiffsmaschinen hatte. Man brauchte hier keine neuen Motorenfabriken oder Gießereien, weil sie schon dawaren. Und außerdem gibt es hier genügend Geld. Millionäre, deren Väter mit der Herstellung von Kutschen oder Eisenbahnwaggons reich geworden sind, suchen nach neuen Betätigungsfeldern. Hier in Detroit strebt alles nach vorne. Die Menschen sind bereit, Risiken einzugehen. Mr. Olds, die Dodge Brothers - geborene Spieler.«
Wie Carl Autofahren gelernt hatte? Er grinste. »Heimlich. Jedesmal sechs Fingerbreit weiter.«
Er erzählte, daß er früher in einer Fahrradreparaturwerkstatt in Columbus, Ohio, gearbeitet habe. Ein paar wohlhabende Männer stellten ihre Autos dort unter und fuhren nur bei schönem Wetter aus. Carl beobachtete wochenlang jeden Schritt und jede Handbewegung der Fahrer. Eines Nachts entschloß er sich zu seiner ersten unbeaufsichtigten »Fahrt« in einem Sportzweisitzer, einem einzylindrigen Packard; er fuhr sechs Fingerbreit nach vorne, dann wieder zurück in die Werkstatt, deren Wände nur von wenigen Lichtern erhellt waren.
Zwei Abende später wurde er vom Werkstattbesitzer ertappt. Der Mann bewunderte Carls Mut und Beharrlichkeit und meinte, er solle den Packard am nächsten Tag um den Block fahren; sollte er aber mit einer Beule oder auch nur mit einem einzigen Kratzer zurückkommen, müsse er dafür geradestehen.
»Ich hab’ ihm gesagt, daß nichts passieren werde, und es ist auch nichts passiert.«
»Und mit Henry Ford hast du dich gleich verstanden?«
»So kann man das nicht sagen. Ich war fürchterlich nervös, als ich mich bei ihm vorgestellt habe.«
Paul nahm die Zigarre aus dem Mund. »Der Chef der Firma hat persönlich mit dir gesprochen?«
»Na ja, eigentlich war das eine Ausnahme, aber als ich aus Columbus hierherkam, hab’ ich Mr. Ford einen Brief geschrieben. Ziemlich krudes Zeug, ich bin ein schlechter Briefschreiber. Ich konnte es kaum fassen, daß er antwortete. Er lud mich zu sich nach Hause ein. Dort erklärte er mir, daß er sich nur selten ums Personal kümmert und wenn, dann nur auf oberster Ebene, aber etwas in meinem Brief habe ihm gefallen.«
»Und was war das?«
Carl lächelte verschmitzt: »Daß man mich in Princeton rausgeworfen hat.« Und er beschrieb diese denkwürdige erste Begegnung mit seinem Arbeitgeber.
Am Abend des Vorstellungsgespräches hatte Carl lange unter einer der frisch ausgetriebenen Ulmen auf der Harper Avenue gestanden. Seine Beine zitterten, und der Magen rebellierte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt ein solches Nervenbündel gewesen war. Wahrscheinlich hatte er bis jetzt noch keinen Augenblick erlebt, der mit soviel Spannung und Erwartung verbunden war - nicht einmal den, als er sich während einer Schlittenpartie im Beisein von Erwachsenen den ersten Kuß von Hilde Retz geraubt hatte.
Die Harper Avenue war weiß Gott keine ärmliche Gegend, aber sie zählte auch nicht zur feinen Wohngegend. Carl fixierte ein großes, aber einfaches Holzhaus, durchaus nicht das, was man von jemandem erwartet, der angeblich auf dem besten Weg war, ein reicher Mann zu werden. Henry Ford war auf dem Land in der Nähe von Dearborn aufgewachsen, und zwar in Armut, das wußte Carl. Vielleicht hatte er keine Lust, sich mit dem Klüngel der Woodward Avenue einzulassen, der sein Vermögen größtenteils geerbt hatte.
Schließlich nahm Carl alle Kraft zusammen und bezwang seine Angst, das Haus zu betreten. Im Gebüsch um die Veranda zwitscherten die Vögel in der Dämmerung. Eine einfache Frau mit offenem Blick öffnete die Tür, nachdem er geklopft hatte.
»Sie müssen der junge Mann sein, den Henry erwartet. Ich bin Mrs. Ford. Bitte kommen Sie doch rein.«
Der Hauptanteilseigner der Ford Motor Company trat in den Flur, um ihn zu begrüßen. Fords steifer Einsatzkragen hing an einem Knopf, die Krawatte hatte er abgelegt. Er war groß und dürr, hatte ein kantiges Gesicht, große Ohren und durchdringende, tiefliegende
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