Fremde Federn
Gesicht, und die vier Damen eilten durch verlassene Straßen zu einem Austernrestaurant in der Dreiundvierzigsten Straße, unweit des Hauptbahnhofs.
In Zweier- und Dreiergruppen traf nacheinander das ganze Ensemble dort ein. Manchester, Launcelot Buford mit seiner widerwärtigen Mutter und der andere jugendliche Schauspieler. Das Austernrestaurant war bis vier Uhr früh geöffnet, doch in den ersten Morgenstunden war es spärlich besucht - nur ein paar hartgesottene Trinker lümmelten an der langen Mahagonitheke. Der Geschäftsführer führte sie in ein Nebenzimmer, wo ein Klavier stand. Todmüde Kellner servierten Austernsuppe mit kleinen gelben Fettaugen, Schalen mit Kräckern, Bier in Krügen und Kaffee in Tassen. Fritzi bestellte Kaffee. Eustacia trank nacheinander zwei Gin. »Das Korsett läßt sich so besser ertragen, wißt ihr das nicht?«
Der alte Mr. Allardyce, der trotz seiner Jahre noch putzmunter war, krempelte die Ärmel hoch und spielte beliebte Schlager. Mehrere Mitglieder der Truppe traten allein, im Duo oder Trio neben ihn, trällerten schlecht und recht die Texte und heimsten den Beifall der Angeheiterten ein. Schon bald wurde die Stimmung ausgelassen; daß das feuchtfröhliche Zusammensein am kommenden Morgen mit schrecklichen Kopfschmerzen bezahlt werden mußte, war allen egal, solange es im Augenblick die Seele wärmte. Diese kleinen Feiern, bei denen die Schauspieler ihre Ängste, Sorgen und Hemmungen vergaßen, zählten für Fritzi zu den größten Freuden des Theaterlebens.
Um drei Uhr waren bei Mr. Allardyce noch immer keine Anzeichen von Müdigkeit zu bemerken. Weitere Runden wurden bestellt. Die Kellner machten inzwischen einen etwas lebhafteren Eindruck, wahrscheinlich, weil sie sich Trinkgelder erhofften. Sie kennen Schauspieler nicht, dachte Fritzi.
Eine halbe Stunde später fielen ihr fast die Augen zu. Eustacia hatte ihre bestrumpften Beine auf einen freien Stuhl gelegt. Sie hielt ein volles Glas Gin in die Höhe. »Möchtest du? Ich kriege keinen Tropfen mehr runter.«
Fritzi schauderte. »Oh, nein, vielen Dank. Ich muß nach Hause. Ich möchte morgen abend nicht vollkommen ausgelaugt sein.« Sie griff nach Umhang und Handtasche. »Wie wird die Premiere, Eustacia?«
Eustacia unterdrückte ein Gähnen. »Wenn wir nur ein Quentchen Glück haben, werden wir alle fünf Akte ohne Tote und Krüppel durchstehen. Mit mehr Erfolg rechne ich allerdings nicht.«
Fritzi wäre gerne mutig, überschwenglich, zuversichtlich gewesen. Aber es gelang ihr nicht. Sie und Eustacia nickten nach allen Seiten und verließen gemeinsam das Restaurant, um nach Taxis Ausschau zu halten. Fritzis bleiches, müdes Gesicht war wie eine Maske, hinter der sich ihre Zweifel und ihre Angst verbargen.
25. DIE TRAGÖDIE
Fritzi traf eine volle Stunde vor Vorstellungsbeginn im Novelty ein. Draußen ging Nieselregen nieder. Sie fühlte sich hundeelend. Sie war nicht nur müde von den Ausschweifungen der vergangenen Nacht, sondern litt auch noch unter Bauchkrämpfen. Daß es ein vertrauter Schmerz war, machte ihn nicht erträglicher.
Eustacia flüsterte ihr zu, daß sie Hobart gesehen habe. »Seine Augen stehen ihm wie Froschaugen aus dem Kopf. Simkins hat erzählt, daß er auf seinem Weg ins Theater einem Leichenzug begegnet ist. Hätte die kleinen Gassen nehmen sollen, der Narr. Möchte wissen, was noch alles passiert!«
Während sie sich schminkte, konnte sich Fritzi beim besten Willen nicht an ihre erste Textzeile erinnern. Das war ihr noch nie passiert. Sie wühlte zwischen Tiegeln und Tuben, bis sie das zerknitterte Blatt mit der ersten Szene des ersten Akts fand. Sie faltete es und schob es unter das ausgefranste Seil, das ihr häßliches, schmutzfar-benes Kleid zusammenhielt. Wieder wurde sie von Krämpfen gepeinigt. Mit geschlossenen Augen schlang sie die Arme um den Oberkörper und verharrte in der Position, bis die Krämpfe nachließen.
Manche Schauspieler machten sich am Abend der Premiere kleine Geschenke. Obwohl sie es sich kaum leisten konnte, hatte sie für die Herren Zigarren zu fünf Cent, kleine Duftkissen für die Damen und billige Federmesser für die beiden widerspenstigen Jungen erstanden. Sie überreichte Mr. Denham seine Zigarre, während er einen Rosenkranz durch seine Finger gleiten ließ. Mr. Gertz zeigte ihr ein Medaillon mit dem Bildnis des heiligen Genesius, des Schutzpatrons der Schauspieler, der, so hieß es, unter Kaiser Diokletian als Märtyrer gestorben war. Fritzi fand ihre
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