Fremde Federn
Lacklederspitzen, sein Leinenhemd weiß mit schmalen roten Längsstreifen und einem abnehmbaren Kragen. Die Windsor-Krawatte paßte farblich zum weinroten Hutband.
Fritzi sah lächelnd zu, wie die beiden Männer ausgelassen wie Schuljungen im Kreis tanzten, sich umarmten und auf die Schultern klopften. Sie waren zusammen nach Ellis Island gekommen, aber die Ärzte der Einwanderungsbehörde hatten dem jungen Herschel Wolinski und seiner Familie die Einreise verweigert, weil die Mutter an einer Augenkrankheit litt. Herschel wünschte sich nichts sehnlicher als ein neues Leben in Amerika, aber er war nicht gewillt, seine Mutter und seine beiden Schwestern zu verlassen. Während Paul nach Chicago aufbrach, war er nach Polen zurückgekehrt.
Er schaffte es jedoch ein zweites Mal bis nach Ellis Island. Im Jahr 1901 sahen er und Paul sich zufällig bei Woolworth auf der Sixth Avenue wieder. Ein Klavierspieler spielte dort einen der bekannten Schlager, eine langsame, etwas melancholische Melodie namens Ragtime Rose von Harry Poland. Der Komponist stand ganz in der Nähe des Klaviers, als Paul ihn erkannte.
»Das ist also Fritzi, die Schauspielerin. Entzückend!« Harry riß sich den Hut vom Kopf und küßte ihr die Hand. Sein schwarzes, lockiges Haar glänzte in der Sonne. Seine blauen Augen waren ansteckend fröhlich. »Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.«
»Und ich von Ihnen, Mr. Poland.«
»Aber bitte, nennen Sie mich Harry.«
»Sie schreiben ja richtige Ohrwürmer.«
»Er schreibt auch seine eigenen Texte«, ergänzte Paul. »Und die sind auch noch gut. Ganz schöne Leistung für jemanden, der bis vor zehn Jahren nur Polnisch sprach.«
»Was ihr da sagt, ist sehr freundlich von euch. Ich liebe die amerikanische Musik. Ich schreibe Musik für einfache Leute, die Melodien mögen, die sie sich merken und mitsummen können. Stört es Sie, wenn ich meinen Mantel ausziehe?« Seine Hosenträger waren knallrot und hatten Messingclips. In Harrys Gegenwart kam sich Paul wie ein Landstreicher vor.
»Wie geht es Flavia?« erkundigte er sich.
»Leider unverändert.« An Fritzi gewandt, fuhr er fort: »Meine
Frau ist von der Taille abwärts gelähmt. Ein Jahr lang konnte sie nicht sprechen. Ihre Karriere als Sängerin war mit einem Schlag zu Ende.«
»Das tut mir sehr leid, das ist ja furchtbar traurig.«
»Aber jetzt geht es uns gut. Wir haben eine ausgezeichnete Krankenschwester, die bei uns im Haus lebt, und wenn ich zu Hause bin, kümmere ich mich um Flavia. Und das tu ich gern, denn sie hat mir damals, als ich keine Menschenseele im Musikgeschäft kannte, Tür und Tor geöffnet.«
Paul öffnete den Picknickkorb und breitete ein weißes Tischtuch aus. »Hast du schon deinen eigenen Musikverlag gegründet?«
Harry machte sich an den Schnallen seines Beutels zu schaffen. »Ich arbeite noch immer als Freiberufler für diverse Verlage. Aber ich habe es nicht aus dem Auge verloren.«
»Dein Automobillied wird überall in England, ja in ganz Europa gespielt.«
Harry lächelte. »Siebenhundertvierzigtausend Exemplare weltweit
- bis jetzt. Ich freue mich natürlich über das Geld, das ich verdiene, aber ich will nicht mein ganzes Leben lang Schlager schreiben.« Er wandte sich an Fritzi. »Irgendwann möchte ich für die Bühne schreiben. Ich arbeite wie ein Teu... sehr hart, damit ich ein oder vielleicht zwei Stücke in ein Musical kriege.«
»Ich bin sicher, daß Sie das schaffen werden.«
Harrys Augen leuchteten auf. »Tja, um ehrlich zu sein, bin ich mir da auch ziemlich sicher. In diesem Land stehen einem alle Türen offen. Alles ist möglich, auch Harry Poland am Broadway. Und ich werde eines Tages meinen eigenen Verlag gründen. In der Zwischenzeit .«
Er zog Notenpapier aus seinem Beutel. »Darf ich dir meine neuesten Werke überreichen?« Paul las die Titel. Statue of Liberty Rag. Sadie Loves to Foxtrot.
Paul überreichte Harry im Austausch ein Buch, dann reichte er die Noten Fritzi. »Oh, nein, nimm sie für Julie mit«, wehrte sie ab, und er fügte sich.
Harry beförderte eine alte Ziehharmonika zutage. »Meint ihr nicht, daß wir zum Essen etwas Musik haben sollten?«
Im Hotel hatte man kaltes Huhn, Leberpastete, Kräcker, Rohkost,
Kartoffelsalat, Roggenbrot und eine Flasche Rotwein eingepackt. Am Fuße des Hügels sahen sie ein kleines Mädchen, das mit einem Stöckchen einen Holzreifen antrieb. Ein kleiner Junge kam aus dem Gebüsch auf sie zugelaufen und zog sie an den Zöpfen. Sie schrie auf
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