Fremde Männer küsst man nicht!
es nur wenige Minuten bis zur Fabrik. Vermutlich gingen die Arbeiter im Sommer zu Fuß dorthin.
Wie seltsam, ging es Christina durch den Sinn. Sie selbst hatte die besten Schulen in den Vereinigten Staaten besucht und nie Diskriminierung erlebt. Für María dagegen war es Alltag. Leute wie María misstrauten jeder Regierung und kämpften aus eigener Kraft um ihren amerikanischen Traum, ohne zu ahnen, dass das Gesetz voll auf ihrer Seite war, wenn es um sichere Arbeitsbedingungen und faire Behandlung ging.
Christina hatte María auch darauf hingewiesen, dass die Regierung der Vereinigten Staaten ihr immerhin eine der begehrten Greencards ausgestellt hatte, ein Privileg, von dem viele mexikanische Einwanderer nur träumen konnten. Das amerikanische Rechtssystem würde ihr helfen, für ihre Familie eine bessere Zukunft zu erarbeiten, das hatte Christina ihr versprochen. Und sie war entschlossen, dieses Versprechen zu halten.
Als Bruce auf das Gelände der Bekleidungsfabrik fuhr, bekam Christina zum ersten Mal den Schauplatz all der Ungerechtigkeiten zu Gesicht. Es handelte sich um nichtssagende Produktionsgebäude, wie es sie überall auf der Welt gab. Bruce hielt am Pförtnerhäuschen und trug sich in die Besucherliste ein. Minuten später hatten sie María zum Angestellteneingang gebracht, wo sie ihre Karte stempelte und dann das Gebäude betrat. Ihr direkter Vorgesetzter war nirgends zu sehen.
Bruce parkte seinen Wagen neben dem Haupteingang.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte drinnen eine extrem gelangweilte Empfangsdame, die kaum von ihrem Modejournal aufsah. Sie war vielleicht achtzehn, hatte vermutlich erst letztes Frühjahr ihren Schulabschluss gemacht. Als sie Bruce’ strahlendes Lächeln sah, leuchtete ihr Gesicht auf.
„Ich möchte gern zu Donald Gray“, sagte er.
„Haben Sie einen Termin?“, fragte das Mädchen.
Bruce schüttelte den Kopf und streckte die Hand nach ihrem Namensschild an der Bluse aus. Er hob es leicht an: Julie. „Nein, nicht für heute. Würden Sie ihn bitte anrufen, Julie, und ihm sagen, dass Bruce Lancaster hier ist?“
Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe und schüttelte ebenfalls den Kopf. „Das kann ich nicht. Er empfängt Besucher nur mit Termin. Ich kann aber eine Nachricht für ihn aufnehmen. Und Sie könnten Ihre Visitenkarte hierlassen.“
Mit einem noch strahlenderen Lächeln holte Bruce eine Visitenkarte aus der Hosentasche und spielte damit wie mit einem Pokerchip. „Na kommen Sie schon, Julie. Rufen Sie ihn für mich an.“
„Ich weiß nicht, ob ihm das recht ist“, sagte sie zögernd. Ihre Entschlossenheit wankte bereits.
„Er wird ihnen dankbar sein, glauben Sie mir.“ Er zwinkerte sie mit seinen unwiderstehlichen blauen Augen an.
Wenn Christina diesen Mann nicht schon von einer ganz anderen Seite kennengelernt hätte, wäre sie jetzt genauso hingerissen von seinem Charme gewesen wie Julie. Auch so blieben seine Bemühungen bei ihr nicht ganz ohne Wirkung. Ihr Puls hatte sich erheblich beschleunigt, während sie ihm zusah.
Julie nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer. „Ja, hier ist Julie vom Empfang. Mr Bruce Lancaster von Lancaster & Morris ist hier und möchte gern Mr Gray sprechen.“
Ihr Blick wanderte von Bruce zu Christina. „Er ist in Begleitung einer Frau.“ Sie wandte sich ab und wisperte dann: „Sie trägt Prada. Ich habe dieses Kostüm letzten Monat in der Cosmo gesehen.“ Sie hielt einen Moment inne und sprach dann wieder lauter. „Ja, gut, ich sage es ihnen.“ Sie legte auf und wandte sich wieder den beiden Besuchern zu. „Mr Gray ist leider verhindert. Aber Elaine Gray ist auf dem Weg hierher.“
„Vielen Dank“, lächelte Bruce. Dann nahm er Christina beim Ellenbogen und zog sie vom Empfangstisch weg. „Das kann nur an Ihrem teuren Kostüm liegen. Auch Elaine Gray empfängt sonst nie Besucher.“
„Wie das? Ist sie etwa immun gegen Ihren Charme?“
Bruce grinste. „Ja, seit ich mit Marilee Becker zum Abschlussball gegangen bin anstatt mit ihr. Sie ist zweiunddreißig, hat in Washington studiert, in St. Louis für eine Kanzlei gearbeitet und ist vor zwei Jahren zurückgekehrt, nachdem ihre Beziehung in Scherben lag.“
„Und wo haben Sie gelernt?“
„Morrisville High School, wie jeder hier.“
„Nein, ich meine, wo haben Sie Jura studiert? Mir ist nur gerade aufgefallen, dass ich nicht nur noch keine Visitenkarte für Lancaster & Morris habe, sondern auch nichts über Ihren
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