Fremden Kind
ohne ihre Brille gar nicht lesen konnte.
»Nein, nein, mein Freund, wir würden viel lieber etwas von Ihnen hören«, sagte Hubert herzlich.
»Wenn ihr darauf besteht«, sagte Cecil und heuchelte gekonnt Verlegenheit.
Freda sah zu Daphne, deren Wunsch, selbst etwas vorzutragen, in ihrer Begeisterung für Cecil anscheinend untergegangen war. Für eine Gastgeberin war solch eine Lesung unweigerlich mit dem Risiko verbunden, dass sie peinlich wurde, ebenso konnte sie sich aber auch als Erfolg entpuppen, als etwas, an das sie sich noch Jahre später erinnern würden. Harry hatte darum gebeten, und ihn wollte sie nicht enttäuschen. Ihr graute vor einem schlecht gelaunten Harry. »Na gut«, sagte sie, »nach dem Dinner!« Und ergänzte: »Wussten Sie, dass wir ihm mal begegnet sind?«
»Das wird Sie interessieren, Cecil«, sagte Hubert.
»Wem sind Sie mal begegnet, meine Liebe?«, fragte Elspeth.
»Ach, Lord Tennyson«, sagte sie entrückt und legte eine Hand auf Cecils Ärmel. Cecil belächelte galant die Hand, und nachdem Freda kurz zugedrückt hatte, zog sie sie wieder zurück. »Es war auf unserer Hochzeitsreise, deswegen kam es uns vor wie eine Glücksverheißung.« Zufrieden über die erlangte Aufmerksamkeit, blickte sie in die Tischrunde, verunsichert nur durch Georges Miene, die gespielte Nachsicht ausdrückte. Das Gefühl beschlich sie, er könnte versuchen, von der Geschichte abzulenken, die zu erzählen sie jetzt Gelegen heit gefunden hatte. Sie wollte sie auf ihre Weise erzählen, aber aus Erfahrung wusste sie auch, dass sie höchstwahr scheinlich etwas auslassen würde. »Es war auf unserer Hochzeitsreise«, wiederholte sie, um sich zu fangen, und ließ ihren Blick forschend auf Harry ruhen, während das Reizwort im Kerzenschein aufleuchtete. Sie glaubte nicht, dass er die Geschichte schon mal gehört hatte, aber ganz sicher war sie sich nicht. »Wir fuhren auf die Isle of Wight. Frank sagte, er wolle mich übers Wasser führen!«
»Sieht ihm ähnlich«, sagte Hubert und schüttelte in zärtlichem Gedenken an seinen Vater den Kopf.
»Man setzt mit der Fähre über, ich glaube von … wie heißt der Ort doch gleich? Lynmouth, oder?«
»Ich glaube Lymington«, sagte Hubert.
»Warum kann ich mir das bloß nie merken?«
»Man kann auch von Portsmouth aus übersetzen«, sagte George, »aber von da ist es ein bisschen weiter.«
»Jetzt lass doch Mutter mal in Ruhe erzählen«, sagte Daphne, gleichermaßen enttäuscht und verärgert über die Geschichte und die Unterbrechungen.
Freda ließ sich von Harry Wein nachschenken und trank einen herzhaften Schluck. »Es muss am frühen Abend gewesen sein. Sind Sie schon mal mit der Fähre gefahren? Man hat den Eindruck, sie kriecht förmlich hinüber zur Isle of Wight, als hätte sie alle Zeit der Welt! Vielleicht waren wir auch nur ungeduldig. Ich weiß noch, dass die Queen damals im Osborne House weilte, und Frank sagte, er habe ihren persönlichen Diener mit den roten Truhen für die Staatsdokumente gesehen – und alles musste natürlich mit der Fähre hin- und hertransportiert werden. Das muss ein gutes Geschäft für die Fährleute gewesen sein.«
»Zu ihrem Schaden war es sicher nicht«, sagte Hubert. »Es war nun mal ihre Arbeit, und sie war immerhin die Queen.«
»Nein, geschadet hat es ihnen wohl nicht. Jedenfalls saßen wir unter Deck, weil ich fror, aber Frank hat sich ja schon immer für Schiffe begeistert!«
»Man könnte sagen, mein Vater war fasziniert von allem, was mit Transport zu tun hat«, sagte Hubert.
»Frank fragte mich also«, fuhr Freda fort, »ob ich was dagegen hätte – und wohlgemerkt, es war auf unserer Hochzeitsreise –, wenn er nach oben ginge, sich mal umsehen.«
»Und da lief er Tennyson über den Weg«, sagte Cecil, der sich in einer Pose ostentativer Aufmerksamkeit leicht ver renkt über seinen Teller beugte.
»Da wusste ich noch gar nicht, dass es Tennyson war!«, sagte Freda, durch Cecils Wunsch nach erzählerischer Raffung aus der Fassung gebracht. »Frank hat sich auf Schiffen immer gern mit dem Kapitän oder anderen Leuten unterhalten, so auch hier. Nach einiger Zeit ging ich nach oben an Deck und sah Frank an der Reling lehnen, neben ihm eine ganz außergewöhnliche Gestalt.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagte Cecil. »Er muss auf dem Weg nach Farringford häufig mit der Fähre gefahren sein,.«
»Ja, sicher … Aber ich habe trotzdem einen gehörigen Schreck bekommen!«, sagte Freda und setzte dann mit
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