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Fremdes Licht

Fremdes Licht

Titel: Fremdes Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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passiert?«
    Der Junge tastete mit beiden Füßen nach der Sonde,
hinterließ Schmutzspuren auf dem grauen Wroff; ein Steinchen
löste sich von seiner Fußsohle, fiel zu Boden und kam
klackernd zur Ruhe. »Ali«, rief die Frauenstimme aus
größerer Entfernung. Der alte Mann begann an seiner Wange
zu kauen.
    »Ein Sohn Allahs. Keiner von denen, die Hals über Kopf
das Weite gesucht haben. Selbst die Offiziere haben ihre Posten
verlassen – nimm das zu deinen Daten!«
    Er schloß die Augen und stimmte einen leisen, auf- und
abschwellenden Singsang in einer anderen Sprache an. Keines der
zahllosen Sprachmuster gab dem Bibliothekshirn Aufschluß
über die Bedeutung der Worte. Er kreuzte die Arme, faßte
sich bei den Schultern und wiegte sich zu der klagenden Weise.
    Das armlose Kind, das auf dem Rücken lag und die Sonde mit
seinen schmutzstarrenden Füßen betastete, sah zu dem Alten
hinüber und kicherte.
    Das Bild gefror.

 
     
SECHSTER TEIL
     
Fremdes Licht
     
     
    Das Universum ist geprägt von der Schönheit
    der harmonischen Proportionen, doch Harmonien
    müssen im Einklang mit der Erfahrung stehen.
    - JOHANNES KEPPLER

 
54
     
    Vier Tage nach Talots Verschwinden huschte Jehanna unmittelbar
nach Tagesanbruch auf die Unterrichtshalle zu. In der einen Hand
hielt sie das Kugelrohr, in der anderen die Dreikugel. Die Messer und
die Hitzeschleuder steckten im Gürtel. Im Halbdunkel waren
Gesicht und Hände so grau wie die Waffen.
    Höchstens vier von ihnen waren in der Halle. Die ganze
Nacht über hatte sie im Gehölz gehockt, gezählt und
überlegt. Ilabor, der delysische Soldat, hatte die Halle weder
betreten noch verlassen – wo, zum Henker, steckte er? Wenn er
drinnen war, sah die Sache ganz anders aus. Ayrid, Dahar und die
jelitische Hure hatten die ganze Nacht über die Halle nicht
verlassen; vielleicht schlief der Soldat auch hier – vielleicht
bei Ayrid – oder bei der Hure.
    Grax, Lahab, der jelitische Bürger und die beiden delysischen
Bürger waren noch nicht zur Halle gekommen. Ayrid mit ihrem
lädierten Bein zählte nicht; auch nicht die kleine Hure.
Blieben Ilabor und Dahar. Jehanna hätte sich nicht träumen
lassen, daß ein erster Stellvertreter des Oberkommandos –
selbst ein unehrenhaft entlassener, selbst wenn er verantwortlich war
für den Krihundspakt – daß er einer Schwester zur
Gefahr werden konnte. Aber so lagen die Dinge jetzt. Auf nichts war
mehr Verlaß.
    Vermutlich zwei Kämpfer also: Ilabor und Dahar. Sie konnte
Ayrid als Deckung benutzen; fragte sich nur, gegen wen. Gegen Ilabor?
Schlimmer war Dahar, der mindestens so gut trainiert war wie sie
selbst; nur schon über diesen Zweikampf zu grübeln, kostete
Anstrengung. Besser, sie ließ es drauf ankommen.
    Sie überlegte wohl, ob es nicht besser war zu warten, bis
Grax zur Unterrichtshalle kam. Wenn sie nicht Ayrid sondern ihn mit
seinem unsichtbaren Harnisch als Schild gegen Dahar benutzte, dann
mußte Dahar erst um den Ged herumkommen, bevor der Zweikampf
begann, und dann gewann sie ein bißchen Zeit. Aber dann verwarf
sie diese Idee wieder. Woher wollte sie wissen, wie der Ged sich
verhielt. Es gab schon genug, was sie nicht wußte.
    Zum Beispiel, ob Ilabor drinnen war oder nicht. Sie durfte nicht
riskieren, daß er plötzlich in ihrem Rücken
auftauchte. Den Händler, diesen Zwerg, konnte sie verkraften,
auch die Delysierin, auch beide auf einmal, aber nicht den Soldaten
– nicht wenn sie ihn plötzlich im Rücken hatte. Sie
hatte stundenlang im Unterholz gehockt, um sich zu vergewissern,
daß die Halle nicht von delysischen Soldaten beobachtet wurde.
Aber warum sollten sie sie beobachten? Sie hatten sie ja längst
besetzt. Vier zu zwei. Nein, vier zu eins. Dahar zählte nicht
mehr zu den Jeliten. Die ganze Zeit über hatte er Khalid in die
Hände gespielt, die Kader demoralisiert und nichts anderes im
Sinn gehabt, als sich mit dem delysischen Gesindel zu
verbrüdern…
    Wie sie es jetzt vorhatte.
    Jehanna runzelte fürchterlich die Stirn. Talot, Talot, nur
für dich… Verflucht, wo war Ilabor?
    Sie hatte zu lange damit zugebracht, das herauszufinden. Jemand
kam eilig den Pfad zur Unterrichtshalle herauf, und Jehanna zog sich
zwischen die Bäume zurück. Aber es war bloß eine
Delysierin, die mit der Naivität eines Bürgers daherkam und
meinte, nervöses Herumblicken sei ein Ersatz für Deckung
und Bewaffnung. Noch ein Hohlkopf.
    Die Frau verschwand in der Unterrichtshalle, und Jehanna folgte
ihr. Niemand im Korridor,

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