Frevel: Roman (German Edition)
die Invasion.
»Ich würde ihn gern noch einmal sehen«, sage ich, und der Botschafter nickt, als wäre sein Kopf zu schwer, um ihn hochzuhalten. Plötzlich überkommt mich der Drang, mich ihm anzuvertrauen, ihm von all denen zu erzählen, die hinter seinem Rücken gegen ihn arbeiten, von Henry Howards ehrgeizigen Plänen, den Machenschaften seiner Frau, von Dumas und dem Ring. In meinem erschöpften Zustand glaube ich einen absurden, flüchtigen Moment lang, dass ich von meiner Bürde befreit werden könnte, wenn ich sie mit ihm teilte, wenn ich diesem anständigen, väterlichen Mann, der zwischen so vielen rivalisierenden Parteien gefangen ist, gestände, dass ich nicht der bin, für den er mich hält, dass ich ihn die ganze Zeit getäuscht habe, aber dass wir letztendlich dasselbe Ziel anstreben: einen Krieg zu verhindern. Ich halte eine Hand vor den Mund und blicke zu Boden, bis dieser Anflug von Irrsinn verflogen ist. Es war meine Entscheidung, ein Doppelleben zu führen, und ich muss an dieser Entscheidung festhalten, auch wenn ich die Belastung fast nicht ertragen kann.
»Da wird einem bewusst, wie wenig man einen Mann kennt, obwohl man ihn den größten Teil des Tages an seiner Seite hat«, sinniert Castelnau bedrückt, als er mich den Gang entlang zu der Hintertür in der Nähe der Küche führt. »Nie habe ich ihm eine persönliche Frage gestellt, wisst Ihr? Ich habe ihm nur von morgens bis abends ziemlich schroffe Anweisungen erteilt. Er hatte sich nie beklagt, aber ich glaube nicht, dass er in England glücklich war. »
Castelnau löst einen Schlüssel von der Kette an seinem Gürtel, öffnet die Tür und geleitet mich über den kleinen Hof zu den Nebengebäuden und Lagerräumen, die ihn zu zwei Seiten säumen. Meine bloßen Füße sind so kalt, dass sie auf dem Pflaster zu schmerzen beginnen – der Botschafter scheint nicht daran gedacht zu haben, dass ich keine Schuhe trage, also zwinge ich mich unter Aufbietung all meiner Willenskraft, die Beschwerden zu ignorieren. Der Himmel ist jetzt hell genug, um auf Kerzen verzichten zu können, und als Castelnau die Tür eines der Gebäude aufstößt, kann ich die leblose Gestalt von Léon Dumas auf einem Tisch deutlich erkennen. Sein Kopf ist in einem unnatürlichen Winkel zur Seite geneigt. Der Botschafter bleibt an der Tür stehen, als hielte er Wache, und blickt den Leichnam nicht an. Ich schlinge den Schlafrock enger um mich und trete langsam näher.
Dumas’ große, verwunderte Augen sind geschlossen worden, doch sein Gesicht wirkt nicht friedlich; es ist verfärbt und geschwollen, die Lippen sind leicht geöffnet. Vorsichtig ziehe ich mit dem Zeigefinger seinen Hemdkragen zurück und lege ein Würgemal an seinem Hals frei. Ich sehe ihn vor mir, wie er die Straßen bei den Docks entlanggeht, von den Schuldgefühlen niedergedrückt, die er erfolglos auf mich abzuwälzen versucht hat, und dann von dem Mörder überrumpelt wird, der sich mit einem Strick oder einem zusammengedrehten Tuch in den Händen aus dem Schatten löst.
»Er muss am helllichten Tag angegriffen worden sein«, murmele ich, dabei lege ich die Fingerspitzen auf seinen kalten Arm.
Castelnau verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
»Ihr wisst ja, wie es unten an den Docks zugeht, Bruno, es ist ein übler Stadtteil. Die Seeleute streiten ständig, und die Hälfte ist schon tagsüber betrunken. Diebe halten nach Opfern Ausschau, und die Leute sehen einfach weg.«
»Aber Léon sah nicht so aus, als trüge er große Reichtümer bei sich.« Ich mustere Dumas’ abgetragene, mit Flussschlamm verklebte Hose.
»Wie meint Ihr das?«
Ich zögere. Der Botschafter hat zurzeit genug Probleme, vielleicht wäre es gnädiger, ihn in dem Glauben zu lassen, Dumas sei das Zufallsopfer eines Räubers geworden.
»Ihr fragt Euch vermutlich, ob er nicht von einem Straßenräuber überfallen wurde, sondern von jemandem, der wusste, was ihn dorthin geführt hat«, versetzt er, als ich nichts erwidere.
Dabei späht er zur Tür und nagt an seinem Daumenknöchel, und einen schrecklichen Moment überlege ich, ob er vielleicht irgendetwas verheimlicht. Ich starre ihn über Dumas’ Leichnam hinweg an, bis er mir in die Augen sieht.
»Was ich nicht weiß, Bruno, ist, ob er den Brief bei Throckmorton abgeliefert hat, bevor er attackiert wurde. Die Ratsherren sagen, sie hätten nichts bei ihm gefunden, doch das heißt ja nicht, dass es ihm nicht abgenommen worden sein kann. Wenn er als
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