Frevel: Roman (German Edition)
folgt. Darin sitzt nur ein Passagier, ein Mann, soweit ich das erkennen kann. Er trägt einen Reiseumhang und hat sich einen Hut tief ins Gesicht gezogen, aber Genaueres lässt sich aus dieser Entfernung nicht sagen.
»Ist dieses Boot schon seit Mortlake hinter uns?«, frage ich den Bootsmann, der unter seiner Kappe hervorblinzelt.
»Das da? Ja, Sir – es war am Ufer festgemacht, als Ihr kamt.«
»Die ganze Zeit, während ich an Land war?«
Er zuckt die Achseln.
»Kann ich nicht mit Sicherheit sagen, Sir. Einen großen Teil der Zeit jedenfalls.«
»Mit demselben Passagier darin? Oder ist er in Mortlake eingestiegen?«
»Hab’ ich nicht drauf geachtet.«
»Aber das Boot ist zur selben Zeit losgefahren wie wir?«
»Muss es ja wohl, wenn es jetzt hinter uns ist.«
»Verringere die Geschwindigkeit«, weise ich ihn an. »Lass es uns einholen.«
Der Bootsmann gehorcht, doch das Boot hinter uns scheint es ihm gleichzutun, denn der Abstand wird nicht geringer. Ich befehle meinem Bootsmann, das Rudern ganz einzustellen; er wendet ein, dass die Strömung zu stark ist und uns ans Ufer treiben würde. Das andere Boot gleitet von uns weg und näher an die gegenüberliegende Seite heran. Je weiter wir flussabwärts fahren, desto voller wird es auf dem Fluss, aber unsere beiden Boote bleiben weiterhin auf demselben Kurs. Ich lehne mich über den Rand, kann nach wie vor trotzdem keinen genauen Blick auf den Passagier erhaschen, von dem ich jetzt sicher bin, dass er mir folgt. Bei Putney lenkt der andere Fährmann sein Boot plötzlich quer über den Fluss und legt an den Landetreppen an; mein Bootsmann rudert verbissen weiter, und ich kann nur die Silhouette des Mannes erkennen, als er aussteigt. Ihm haftet nichts Auffälliges an; Größe und Körperbau sind durchschnittlich, und er schiebt den Hut nicht in den Nacken, als er die Stufen hinaufsteigt und verschwindet. Irgendjemand hat sich ganz eindeutig für meinen Besuch bei Dee interessiert. Ich erinnere mich, auch gestern schon das Gefühl gehabt zu haben, verfolgt zu werden – könnte es sich um dieselbe Person gehandelt haben? Aber wem könnte so daran gelegen sein herauszufinden, was ich den ganzen Tag lang treibe, dass er sich die Zeit nimmt, mir bis Mortlake zu folgen? Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Es kann im Grunde nur jemand sein, der mich gestern mit Abigail hat sprechen sehen, und der mir folgt, weil er fürchtet, dass sie mir etwas anvertraut hat, was nicht für meine Ohren bestimmt war. Wenn das der Fall ist, heißt das, dass es sich bei dem Mann, den ich eben leichtfüßig die Landetreppe habe erklimmen sehen, eigentlich nur um den Mörder von Cecily Ashe handeln kann. Und wenn diese Vermutung zutrifft, folgere ich grimmig, könnte Abigail in unmittelbarer Gefahr schweben – genau wie ich auch, obwohl ich wahrscheinlich besser auf mich aufpassen kann. Vielleicht sollte ich sie warnen – aber wie kann ich ihr eine Botschaft zukommen lassen, ohne noch mehr Verdacht zu erregen? Ich habe keine Möglichkeit, mich mit dem Küchenjungen in Verbindung zu setzen, der mir letztes Mal ihren Brief gebracht hat – und ich kann nicht wissen, ob er absichtlich oder unabsichtlich vorher jemandem etwas von unserem Treffen verraten hatte.
Nachdem das Boot endlich an den Buckhurst Stairs angelegt hat und ich dem Fährmann seinen nicht unbeträchtlichen Lohn für die lange Fahrt ausgezahlt habe, kehre ich nach Salisbury Court zurück und finde das Haus ungewöhnlich still und leer vor; die Hallen und Galerien liegen verlassen da. Das kommt mir sehr gelegen; es gelingt mir, meine Kammer zu erreichen, ohne von Castelnau oder seiner Frau aufgehalten zu werden. Doch noch bevor ich den Schlüssel in das Schloss stecke, überkommt mich ein dermaßen greifbares Unbehagen, als hätte ich einen Schatten durch den Korridor huschen sehen; ich fahre herum und spähe nach rechts und links, aber am Treppenabsatz bleibt es ebenso merkwürdig ruhig wie im Rest des Hauses. Ich tadele mich stumm dafür, allmählich überall Gespenster zu sehen, versuche den Schlüssel zu drehen und stelle fest, dass er sich nicht bewegen lässt. Vorsichtig drehe ich den Türknauf – die Tür ist bereits offen. Jeder Muskel in meinem Körper spannt sich an, meine Nackenhaare stellen sich auf, und meine Hand wandert instinktiv zu dem Messer, das ich am Gürtel trage. Ich habe diese Tür abgeschlossen, das würde ich bei allem schwören, was mir heilig ist, darauf achte ich nämlich mit
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