Frevelopfer
Arthrodese.«
Elínborg verstand den Ausdruck nicht.
»Du meinst wohl eine sehr hohe Schiene mit Schnallen um die Gelenke?«, fragte Hildigunnur und sah Elínborg an.
»Das klingt nicht schlecht.«
»Natürlich kann es sich auch um einen normalen Bruch handeln«, sagte Hildigunnur lächelnd.
»Das haben wir untersucht, und dabei ist nichts Verwertbares herausgekommen«, entgegnete Elínborg. Die Polizei hatte Krankenakten über Beinbrüche oder andere Verletzungen am Fuß überprüft, aber das hatte nichts ergeben.
»Also, wenn wir ein bisschen weiterspekulieren – Beindeformationen aufgrund von Kinderlähmung sind hierzulande ein durchaus bekanntes Phänomen. Diese Orthese trug er nur an dem einen Bein?«
»Ja, soweit wir wissen.«
»Weißt du ungefähr, wie alt dieser Mann war?«
»Nein, leider wissen wir da nichts Genaues.«
»Die letzte Kinderlähmungsepidemie hier war 1955. Im folgenden Jahr wurde dagegen geimpft, und seit 1956 sind hier praktisch keine Fälle mehr aufgetreten.«
»Der Mann ist dann also älter als fünfzig, falls es sich um Polio handeln sollte?«
»Ja. Aber man könnte auch an die sogenannte Akureyri-Krankheit denken.«
»Akureyri-Krankheit?«
»Das war ebenfalls eine ansteckende Krankheit. Gewisse Symptome hatten Ähnlichkeit mit Polio, und man geht davon aus, dass es da auch Zusammenhänge gibt. Der erste Fall wurde 1948 in der Nähe von Akureyri diagnostiziert. Wenn ich mich richtig erinnere, infizierten sich etwa sieben Prozent der Einwohner von Akureyri. Vor allem im Internat des dortigen Gymnasiums gab es zahlreiche Fälle. Ich glaube zwar nicht, dass sie irgendwelche bleibenden Behinderungen zur Folge hatten, aber da könnte ich mich irren.«
»Gibt es eine Dokumentation darüber, wer sich mit Polio infiziert hat?«
»Ganz bestimmt gibt es die. Viele wurden in die Epidemie eingeliefert, wie das Quarantänekrankenhaus in Reykjavík hieß. Vielleicht solltest du dich beim Gesundheitsministerium erkundigen, da könnten eventuell noch die alten Unterlagen aufbewahrt worden sein.«
Elínborg schaffte es nicht, zum Abendessen nach Hause zu fahren. Sie rief Teddi an und sagte, sie habe noch etwas zu erledigen und wisse nicht, wann sie fertig würde. Teddi war an solche Anrufe gewöhnt und sagte ihr nur, sie solle sich nicht in Gefahr bringen. Sie unterhielten sich noch eine Weile, und Elínborg bat ihn darum, dafür zu sorgen, dass Theodóra am nächsten Morgen ihr Strickzeug mit zur Schule nahm, außerdem müsste sie bis morgen noch fünfzehn Rippen stricken. Theodóra war ausgesprochen faul in Bezug auf alles, was mit der Hand gemacht werden musste, egal, ob Werken oder Handarbeit. Elínborg hatte die Mütze, die Theodóra als Hausaufgabe abzugeben hatte, zum größten Teil selbst gestrickt.
Sie beendete das Gespräch, steckte das Handy in die Tasche und drückte auf die Türklingel. Es verging geraume Zeit, ohne dass eine Reaktion erfolgte. Sie klingelte ein weiteres Mal, und endlich öffnete sich die Tür. Eine Frau in weißem Bademantel mit ziemlich verwuselter Frisur stand vor ihr.
»Guten Abend«, sagte Elínborg. »Ist Valur zu Hause?«
»Wer bist du?«
»Ich bin von der Kriminalpolizei«, antwortete Elínborg. »Ich habe vor Kurzem mit ihm gesprochen.«
Die Frau betrachtete sie eine Weile, rief dann aber nach Valur und sagte ihm, dass ihn jemand sprechen wolle.
»Wickelt er seine Drogengeschäfte hier von zu Hause aus ab?«, erkundigte sich Elínborg.
Die Frau sah sie an, als verstünde sie die Frage nicht. Valur kam zur Tür.
»Du?«, sagte er.
»Kannst du kurz mit mir kommen?«, fragte Elínborg.
»Was will die eigentlich?«, fragte die Frau im Bademantel.
»Nichts«, sagte Valur. »Geh rein, ich krieg das geregelt.«
»Ja, genau, du kriegst ja alles geregelt«, sagte die Frau mit verächtlichem Unterton und ging zurück in die Wohnung, aus der man Kinderweinen hörte.
»Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?«, fragte Valur. »Bist du allein? Wo ist der Idiot, der neulich dabei war?«
»Es dauert nicht lange«, sagte Elínborg, die hoffte, dass sie das Kind nicht durch ihr Klingeln geweckt hatte. »Nur eine kurze Spritztour und fertig«, sagte sie.
»Spritztour wohin? Was soll denn der verdammte Quatsch?«
»Das wird sich zeigen. Du kannst ein paar Pluspunkte bei der Polizei sammeln. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Mann wie du so etwas gut gebrauchen kann.«
»Ich arbeite nicht für euch«, sagte Valur.
»Ach nein? Ich habe aber gehört, dass
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