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Friedhof der Kuscheltiere

Friedhof der Kuscheltiere

Titel: Friedhof der Kuscheltiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hoffte, daß die Kniescheibe nicht zertrümmert war. Endlich ließ der Schmerz ein wenig nach, und er stellte fest, daß er das Gelenk bewegen konnte. Es würde gehen, wenn er in Bewegung blieb und verhinderte, daß es steif wurde. Vielleicht.
    Er richtete sich auf und begann, in Richtung Mason Street, wo sein Werkzeug lag, am Zaun entlangzugehen.
    Anfangs schmerzte das Knie höllisch, und er hinkte, aber beim Gehen ließ der Schmerz allmählich nach. Im Erste-Hilfe-Kasten des Honda war Aspirin. Er hätte daran denken und es einstecken sollen. Zu spät jetzt. Er hielt Ausschau nach Autos und glitt tiefer in den Friedhofsschatten hinein, wenn eines kam.
    An der Mason Street, auf der es mehr Verkehr geben mochte, hielt er ein Stück Abstand vom Zaun, bis er auf der Höhe seines Honda angekommen war. Er wollte sich gerade dem Zaun nähern und sein Bündel aus den Büschen holen, als er Schritte auf dem Gehsteig hörte und das leise Lachen einer Frau. Er setzte sich hinter einen großen Grabstein -- sein Knie schmerzte zu sehr, als daß er sich hätte niederhocken können -- und beobachtete ein Paar auf der anderen Seite der Mason Street. Sie hielten sich gegenseitig umfaßt, und ihre Art, sich von einem weißen Lichtkreis zum nächsten zu bewegen, erinnerte Louis an eine alte Fernsehsendung. Sogar der Titel fiel ihm ein: ›The Jimmy Durante Hour‹. Was würden sie tun, wenn er sich jetzt erhöbe, ein schwankender Schatten in dieser stillen Stadt der Toten, und ihnen mit hohler Stimme zuriefe: ›Gute Nacht, Mrs. Calabash, wo immer Sie sein mögen!‹
    Im Lichtkreis unmittelbar hinter seinem Wagen blieben sie stehen und küßten sich. Louis beobachtete sie und empfand dabei eine Art angewidertes Erstaunen und Ekel vor sich selbst. Hier saß er nun, wie ein Untermensch aus einem billigen Comic-Heft hinter einem Grabstein versteckt, und beobachtete ein Liebespaar. Ist die Grenze wirklich so schmal? fragte er sich, und auch dieser Gedanke hatte etwas Vertrautes. So schmal, daß du sie ohne viel Federlesens mit einem Schritt überwinden kannst? Auf einen Baum steigen, sich an einem Ast entlanghangeln, in einen Friedhof springen, ein Liebespaar beobachten -- ein Loch graben? Ist es so einfach? Ist es Wahnsinn? Ich habe acht Jahre gebraucht, um Arzt zu werden, aber mit einem einzigen Schritt bin ich zum Grabräuber geworden, zu dem, was die Leute einen Leichenschänder nennen.
    Er preßte die Fäuste auf den Mund, um zu verhindern, daß ein Laut herauskam, und suchte nach dieser inneren Kälte, diesem Gefühl der Losgelöstheit. Es war da, und Louis hüllte sich dankbar darin ein.
    Als das Paar endlich weiterging, beobachtete Louis es nur noch mit Ungeduld. Sie stiegen die Stufen zu einem der Mietshäuser empor. Der Mann suchte nach einem Schlüssel, und einen Augenblick später waren sie drinnen. Die Straße war jetzt still bis auf das ständige Brausen des Windes, der die Bäume rauschen ließ und ihm das verschwitzte Haar in die Stirn wehte.
    Er lief geduckt zum Zaun und tastete in den Büschen nach seinem Segeltuchbündel. Da war es, rauh unter seinen Fingern. Er hob es auf und lauschte dem gedämpften Klirren. Er trug es auf den breiten Kiesweg, der vom Tor herüberführte, und blieb stehen, um sich zu orientieren. Erst geradeaus, dann an der Gabelung nach links. Kein Problem.
    Er hielt sich am Rand des Weges, um schnell im Schatten der Ulmen verschwinden zu können, falls es einen Nachtwächter gab und falls er seine Runde machen sollte.
    An der Gabelung bog er nach links ab und näherte sich Gages Grab. Und plötzlich entdeckte er voller Bestürzung, daß er nicht mehr wußte, wie sein Sohn ausgesehen hatte. Er blieb stehen, den Blick auf die Grabreihen geheftet, auf die düsteren Fassaden der Monumente, und versuchte ihn zurückzuholen. Einzelheiten fielen ihm ein -- das blonde Haar, das immer noch so fein und leicht gewesen war, die schrägstehenden Augen, die kleinen, weißen Zähne, die kaum sichtbare Narbe an seinem Kinn, die von einem Fall auf der Hintertreppe ihres Hauses in Chicago zurückgeblieben war. Das alles sah er vor sich, aber er war nicht imstande, daraus ein zusammenhängendes Ganzes zu schaffen. Er sah Gage auf die Straße zulaufen, zu seiner Verabredung mit dem Orinco-Laster, aber sein Gesicht war abgewandt. Er versuchte sich Gage so vorzustellen, wie er am Abend des Tages, an dem sie den Drachen hatten steigen lassen, in seinem Bettchen gelegen hatte, aber vor seinem inneren Auge war nichts als

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