Friedhof der Kuscheltiere
das Bündel. Die Lampe zu benutzen war eine Versuchung, aber er widerstand ihr. Er ließ den Leichnam und das Werkzeug liegen, wanderte den Weg zurück, den er gekommen war, und stand nach ungefähr fünf Minuten an dem hohen, schmiedeeisernen Zaun. Auf der anderen Straßenseite stand sein Honda, ordentlich am Bordstein geparkt. So nah und doch so weit weg.
Louis betrachtete ihn einen Augenblick, dann schlug er eine andere Richtung ein.
Diesmal ging er vom Tor fort und wanderte am Zaun entlang, bis er im rechten Winkel von der Mason Street abbog. Hier war ein Entwässerungsgraben, und Louis blickte hinein. Was er sah, ließ ihn schaudern. Unmengen faulender Blumen lagen darin, eine Schicht über der anderen, vom Regen und Schnee der Jahreszeiten verklumpt.
Oh, Jesus,
Nein, nicht Jesus. Diese Überreste waren Sühneopfer für einen viel älteren Gott als den der Christen. Die Menschen haben ihm immer wieder andere Namen gegeben, aber der angemessenste war vielleicht der, den Rachels Schwester ihm gab: der Große und Schreckliche Oz, der Gott der toten Dinge, die man dem Boden anvertraut, der Gott faulender Blumen in Entwässerungsgräben, der Gott der Geheimnisse.
Louis starrte wie hypnotisiert in den Graben. Endlich riß er seinen Blick mit leisem Keuchen los -- dem Keuchen eines Menschen, der in Trance versetzt worden war und, nachdem der Hypnotiseur bis zehn gezählt hat, wieder zu sich kommt.
Er ging weiter. Es dauerte nicht lange, bis er gefunden hatte, was er suchte. Wahrscheinlich hatte sein Verstand diese Information schon am Tag von Gages Beisetzung gespeichert.
Vor ihm ragte in der windigen Dunkelheit die Krypta des Friedhofs auf.
Hier wurden die Särge im Winter aufbewahrt, wenn es so kalt war, daß selbst der Bagger die gefrorene Erde nicht aufgraben konnte. Und auch zu Zeiten, in denen das Geschäft zu gut ging.
Louis wußte, daß von Zeit zu Zeit eine solche Konjunktur eintrat; immer wieder gab es Perioden, zu denen ohne jeden ersichtlichen Grund eine Menge Leute starben.
»Das gleicht sich alles wieder aus«, hatte Onkel Carl ihm erzählt. »Wenn ich im Mai zwei Wochen habe, in denen niemand stirbt, Lou, kann ich in zwei Novemberwochen mit zehn Beerdigungen rechnen. Im Dezember geht das Geschäft dann wieder zurück, besonders um die Weihnachtszeit, obwohl die Leute immer glauben, da stürben besonders viele. Dieses Gerede über weihnachtliche Depressionen ist einfach kalter Kaffee. Das kann dir jeder Bestattungsunternehmer sagen. Um Weihnachten herum sind die meisten Leute wirklich glücklich und wollen am Leben bleiben. Also bleiben sie am Leben. Gewöhnlich ist es der Februar, in dem das Geschäft auf Hochtouren läuft. Die Grippe erwischt die alten Leute, und natürlich die Lungenentzündung. Aber das ist noch nicht alles. Da gibt es Leute, die sich ein Jahr oder anderthalb wie die Verrückten gegen den Krebs gewehrt haben. Und wenn dann der Februar kommt, sieht es aus, als wären sie am Ende ihrer Kräfte, und der Krebs rollt sie einfach zusammen wie einen Teppich. Am 31. Januar tritt noch einmal eine deutliche Besserung ein, und sie haben das Gefühl, es überstanden zu haben, und am 24. Februar sind sie schon unter der Erde. Im Februar sterben die Leute am Herzinfarkt, am Gehirnschlag, an Nierenversagen. Daran sind wir in unserer Branche gewöhnt. Und dann passiert wie aus heiterem Himmel im Juni oder im Oktober genau dasselbe. Nicht im August. Der August ist ein ruhiger Monat. Wenn nicht gerade eine Gasleitung explodiert oder ein Bus von einer Brücke stürzt, steht die Krypta im August leer. Aber im Februar ist es schon vorgekommen, daß wir die Särge dreifach übereinanderstapeln mußten und uns sehnlichst Tauwetter wünschten, damit wir ein paar von ihnen unter die Erde bringen konnten und nicht noch ein Kühlhaus mieten mußten.«
Onkel Carl hatte gelacht. Und Louis, der sich in Dinge eingeweiht sah, von denen nicht einmal seine Professoren etwas wußten, hatte gleichfalls gelacht.
Die Doppeltür der Krypta war in die grasbewachsene Flanke eines Hügels eingelassen, dessen Form so natürlich und reizvoll wirkte wie die Rundung einer weiblichen Brust. Die Kuppe dieses Hügels (von dem Louis annahm, daß er nicht gewachsen, sondern aufgeschüttet worden war) wurde von den Pfeilspitzen des schmiedeeisernen Zauns, der nicht der Erhebung folgte, sondern seine Höhe unverändert beibehielt, nur um einen knappen halben Meter überragt.
Louis sah sich um, dann kletterte er den Abhang
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