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Friedliche Zeiten - Erzählung

Friedliche Zeiten - Erzählung

Titel: Friedliche Zeiten - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rotbuch-Verlag
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doch, Irene, nun laß das man sein, aber sie nahm die Autoschlüssel und ging ohne Handtasche und Autopapiere los, einmal vergaß sie sogar, sich die Schuhe anzuziehen, und lief, wie sie war, in Pantoffeln ins Treppenhaus, vielleicht war es ihr auch egal, in Pantoffeln zu sterben, und gleich darauf hörten wir unten die Tür zuschnappen, aber der Vater war ihr wieder nicht nachgerannt.
    Normalerweise merkt man nicht, daß man einen Herzschlag hat, aber wenn der Herzschlag aufhört, merkt man, daß man ihn gerade eben noch gehabt hat, weil es sich an der Stelle, wo er gewesen ist und eigentlich sein müßte, leer und eisig anfühlt, wenn er plötzlich aufhört, und so war es mir immer, wenn sie mit dem Autoschlüssel in der Hand und sonst nichts aus der Wohnung ging, um mit dem Auto an eine Wand zu fahren. Bis sie wiederkam, saßen wir jedesmal alle still im Wohnzimmer und wußten nur, daß sie nicht wiederkommen würde, nicht nur beim ersten Mal, sondern auch später, als sie schon mehrere Male wiedergekommen war, aber wir gewöhnten uns nicht an das Wiederkommen, wenn sie nur mit dem Autoschlüssel in der Hand aus der Wohnung ging, um an die Wand zu fahren, wir wußten jedesmal wieder, daß sie es ernst meinte, also warteten wir, daß sie nicht wiederkommen würde, und ich überlegte manchmal, wie es danach weitergeht, aber es ging dann so schlimm weiter, daß ich versuchte, es mir lieber nicht vorzustellen, aber wenn ich einmal angefangen hatte, daran zu denken, dachte es sich von selbst immer weiter, und dann kam sie irgendwann wieder und mußte unten klingeln, weil sie ja keinen Hausschlüssel mitgenommen hatte. Sobald sie unten klingelte, schickte der Vater uns alle in unser Zimmer, Flori durfte zu uns und mußte erst zum Schlafen in sein eigenes Zimmer, die Mutter kam später zum Gutenachtsagen herein, setzte sich auf eine Bettkante und erzählte uns, wie schön wir früher gelebt hatten, als wir Kinder alle noch klein waren, und wie wir alle immer fröhlich gewesen waren und gelacht hatten, dann weinte sie und putzte sich die Nase, die Nase war vom Weinen schon rot, und dann sagte sie, nein, Kinder, glaubt mir, leben ist nicht schön, das Leben hat es nicht gut mit mir gemeint, bevor sie uns einen Gutenachtkuß gab. Wasa drehte sich immer zur Wand weg, damit der Gutenachtkuß sie nicht so traf, weil er vom Weinen und Naseputzen naß war, aber ich dachte, daß das Leben es nicht gut mit der Mutter meinte und wie gut es war, daß sie sich trotzdem nicht mit dem Auto an die Wand gefahren hatte, sondern zum Glück wiedergekommen war, ich war so froh darüber, daß mir der Kuß nichts ausmachte.
    Wenn sie draußen war, überlegte ich, wann das mit dem Gelachthaben gewesen sein könnte, und ich konnte mich nicht erinnern, manchmal fragte ich Wasa, weil sie die Ältere war, aber sie konnte sich auch nicht erinnern, und dann sagten wir, das war wahrscheinlich im Osten, und wir wurden fast ein bißchen verrückt daran, weil es ja im Osten auch nicht gewesen sein konnte wegen der Idioten von der LPG , die überall Zettel dranmachten und ihren Sozialismus nicht zum Laufen brachten, sondern bloß immer Unterdrückung, vor der die Flucht uns gerettet hatte und die ja bestimmt nicht zum Lachen gewesen sein konnte. Außerdem sagte die Mutter oft, wenn ich bloß nicht mal werde wie meine eigene Mutter, versprecht mir, daß ihr mir sagt, wenn ich so werde wie meine Mutter; wir wußten nicht, wie ihre Mutter war, aber jedenfalls konnte es da auch nicht viel gewesen sein mit Lachen; das einzige, was am Osten funktionierte, waren ganz offensichtlich die Ostwitze, aber über Witze konnte sie eben nicht lachen, nicht so richtig. Der Vater sagte, da hatte man nichts zu lachen, wenn er an seine Schwiegermutter dachte, die immer sofort angefangen hatte, sehr sonderbar und beleidigt vor sich hin zu hüsteln, wenn sie ihn nur von weitem sah, und je näher er kam, um so mehr wurden aus dem beleidigten Hüsteln regelrechte Hustenanfälle, weil sie es nicht ertragen konnte, daß es ihn überhaupt gab. Der Vater machte uns manchmal vor, wie sie gehüstelt hatte, und wir konnten uns also nicht vorstellen, wie wir alle im Osten gelacht haben könnten, außer vielleicht der Vater, wenn er wegging und sie diese guten Ostwitze erzählten. Immerhin konnten wir uns so wenig an den Osten erinnern, daß es dort vielleicht hätte gewesen sein können, während wir uns an danach ausreichend erinnern konnten und genau wußten, daß es schon gleich am

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