Frisch geküsst, ist halb gewonnen
hier?“
„Weil er gut ist und es umsonst ist. Wenn du mich fragst, hat er ein dunkles, gefährliches Geheimnis aus seiner Vergangenheit, über das er nicht reden will. Das merke ich. Er ist ein Mann, der tiefe Schuld mit sich herumträgt, und das steht ihm ganz hervorragend. Aber egal, ich glaube, er büßt für irgendetwas.“
„Für was?“
Schweigen.
„Ziehst du schon wieder eine Grimasse?“, fragte sie.
„Oh, ja. Tut mir leid. Ich weiß es nicht. Du kannst ihn ja fragen, wenn du willst. Gott weiß, ich habe es oft genug versucht.“
Er fuhr fort, über das letzte Seminar zu sprechen und was dort alles passiert war. Izzy hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Sie schaute aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. Nicht nur, weil sie nicht richtig sehen konnte, sondern auch, weil es bereits dunkel war. Wo war Nick, wann würde er zurückkommen? Und warum störte sie seine Abwesenheit so sehr?
Nach dem Abendessen wollte Aaron Project Runaway im Fernsehen gucken, aber Izzy war zu ruhelos. Sie versuchte, sich auf ein Hörbuch zu konzentrieren, aber das lenkte sie auch nicht ausreichend ab, sodass sie nach oben ging, sich Shorts und ein T-Shirt anzog und darin wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte.
„Ich werde ein bisschen Sport machen“, sagte sie.
„Schwitzen?“, fragte Aaron entsetzt. „Absichtlich?“
Sie verdrehte die Augen. „Nenn es eine Marotte.“
„Ich nenne es übel riechend, aber geh nur, hab deinen Spaß. Zu schade, dass du die Show nicht sehen kannst, Tim Gunn ist so heiß!“
Izzy winkte ihm und ging zur Hintertür, öffnete sie und trat in die Dunkelheit.
In dem Moment wurde ihr klar, dass sie einen Fehler begangen hatte. Obwohl einige Lichter auf dem Grundstück brannten und sie die generelle Richtung kannte, konnte sie den Fitnessraum dennoch nicht sehen. Da war kein großer, dunkler Umriss, um ihr den Weg zu zeigen.
„Eine gruselige Höhle nach der anderen“, sagte sie sich in Erinnerung an Ritas aufmunternde Worte.
Mehr aus Gewohnheit, als weil sie es nötig hatte, schloss sie die Augen und stellte sich die verschiedenen Gebäude auf dem Grundstück vor. Der Stall war genau geradeaus, das Fitnessstudio lag zu ihrer Rechten. Wenn sie es verpasste, würde sie in Zäune laufen, also musste sie sich schon mal keine Gedanken machen, sich zu verlaufen. Unglücklicherweise hatte sie nie die Schritte bis zum Fitnessraum gezählt. Das würde sie gleich morgen früh nachholen.
Aber für den Augenblick musste sie einfach auf ihren Instinkt vertrauen. Sie öffnete die Augen wieder – wodurch sie auch nicht viel mehr erkennen konnte – und machte sich auf in die Richtung, die hoffentlich die richtige war. Eine Minute später sah sie die in der Dunkelheit erleuchtete Tür des Studios. Als sie eintrat und das Licht im Inneren anmachte, fiel ihr auf, dass sie überhaupt nicht auf die Idee gekommen war, zurück ins Haus zu gehen und Aaron zu bitten, sie zu führen.
„Ein weiterer Schritt nach vorne“, sagte sie.
Das Fitnessstudio war mit allen nur vorstellbaren Geräten ausgestattet. Izzy überlegte, auf den Stepper zu gehen, fand sich dann aber wenig später auf dem Weg zur Kletterwand. Sie hatte es schon mal geschafft. Es war schwierig und angsteinflößend gewesen, aber auch sehr befriedigend. Würde sie es noch mal schaffen?
Sie fand das Seil und das Geschirr. Alleine zu klettern war nicht besonders klug, aber sie war erfahren genug, um damit umgehen zu können. Und wenn sie fallen sollte, würde sie einfach wieder aufstehen. Oder auch nicht. Egal wie, sie würde keine Angst haben.
Sie kletterte langsam, vorsichtig, ertastete sich ihren Weg nach oben. Schweiß rann ihr über den Rücken, und ihre Arme zitterten, doch sie war entschlossen, es bis nach oben zu schaffen. Mit jedem Schritt, jeder Bewegung fühlte sie sich stärker und mehr wie sie selbst. Das ist es, was mir Spaß macht, dachte sie. Mich selber herauszufordern. Den Adrenalinkick zu erleben.
Denn wenn sie über die Wand nachdachte, brauchte sie nicht über andere Dinge nachzudenken.
Izzy hielt inne und runzelte die Stirn. Stimmte das? War sie süchtig nach dem Adrenalinrausch, weil er auf eine Art, die die meisten Menschen nicht verstanden, sicher war? Zumindest war er eine Ablenkung, das wusste sie.
Sie fasste den nächsten Griff. War die Suche nach Aufregung und Abenteuer eine so große Ablenkung, dass sie ihr erlaubte zu vergessen? Wie jeder andere auch hatte sie Probleme, mit denen sie sich nicht auseinandersetzen
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