Frisch getraut: Roman (German Edition)
gegenwärtigen Tätigkeit ab. Er griff nach einer Kugel aus Reno, Nevada, und wickelte sie ein. »Wie fährt sich der neue Lincoln?«
»Butterweich.«
»Wie geht’s Joyce?«, fragte er, auch wenn es ihn null interessierte, doch an Joyce zu denken war besser, als über das nachzugrübeln, was er gerade tat.
»Plant ein riesiges Weihnachtsgedöns. Das macht sie glücklich.«
»Wir haben nicht mal Oktober.«
»Joyce plant gern im Voraus.«
Sebastian packte die eingewickelte Kugel in den Karton. »Und Clare? Hat sie die Trennung von dem Schwulen überwunden?« , fragte er, natürlich nur, damit der Smalltalk mit seinem alten Herrn nicht ins Stocken geriet.
»Keine Ahnung. Ich hab sie in letzter Zeit nicht oft gesehen, aber ich bezweifele es. Sie ist ein sehr sensibles Mädchen.«
Was noch ein Grund war, sich von ihr fernzuhalten. Sensible Mädchen standen auf feste Beziehungen. Und er war nie der Typ gewesen, der sich auf irgendwas festlegte. Er griff nach einer »Zauberer von Oz«-Kugel mit Dorothy und Toto, die der gelben Pflastersteinstraße folgten. Auch wenn es nie passieren würde, ließ er den Gedanken zu, wie es wäre, eine Nacht oder auch zwei mit Clare zu verbringen. Er hätte nichts dagegen, mit ihr ins Bett zu gehen, und er war sich sicher, dass auch sie von ein paar Runden Sex profitieren würde. Es würde sie lockerer machen und das Leben leichter nehmen lassen. Ihr noch wochenlang ein Lächeln aufs Gesicht zaubern.
In seiner Hand ertönten die ersten Klänge von »Somewhere Over the Rainbow« aus der Spieluhr im Sockel der Kugel. Der Judy-Garland-Klassiker war das Lieblingslied seiner Mutter gewesen, und in Sebastian stand alles still. Tausend Schauder rasten seinen Rücken hinauf und zogen seine Kopfhaut zusammen.
Die Kugel fiel ihm aus den Händen und zerschmetterte. Sebastian schaute fassungslos zu, wie das Wasser seine Schuhe bespritzte und Dorothy, Toto und ein Dutzend fliegende Affen über den Boden gespült wurden. Die distanzierte Fassade, die er in seiner Seele aufrechterhalten hatte, zerschmetterte wie das zerbrochene Glas zu seinen Füßen. Der einzige feste Anker in seinem Leben existierte nicht mehr. Existierte nicht mehr und würde nie wiederkommen. Nie wieder würde sie ihre Schneekugeln abstauben oder sich über farblich unpassende Schuhe aufregen. Nie wieder würde sie mit ihrem falschen Sopran singen oder ihn so lange nerven, bis er zum Haareschneiden bei ihr vorbeikam.
»Verdammt.« Er sank auf den Stuhl. »Ich bring das nicht.« Er fühlte sich empfindungslos und elektrisiert zugleich, als hätte er einen Schlüssel in die Steckdose gesteckt. »Ich dachte, ich könnte es, aber ich kann ihre Sachen nicht einfach zusammenpacken, als käme sie nie wieder.« Seine Augen brannten, und er schluckte heftig. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Ein Geräusch wie ein Güterzug ratterte in seinen Ohren, und er wusste, dass es von dem Druck kam, seine Gefühle zurückzuhalten. Er würde jetzt nicht heulen wie ein hysterisches Weib! Schon gar nicht vor seinem alten Herrn. Wenn er es nur noch ein paar Sekunden zurückhalten könnte, würde es vorübergehen, und ihm ginge es wieder gut.
»Du musst dich nicht dafür schämen, dass du deine Mutter liebst«, hörte er seinen Vater über das Rattern in seinem Kopf hinweg sagen. »Das zeigt nur, dass du ein guter Sohn bist.« Er spürte Leos Hand auf dem Hinterkopf, schwer, vertraut und tröstlich. »Deine Mutter und ich sind nicht miteinander klargekommen,
aber ich weiß, dass sie dich heiß und innig geliebt hat. Wenn es um dich ging, war sie wie ein Pitbull. Sie hätte nie zugegeben, dass ihr Junge auch mal etwas falsch macht.«
Das stimmte.
»Sie hat das sehr gut gemacht, dich größtenteils allein großzuziehen, und dafür war ich ihr stets dankbar. Gott weiß, dass ich nicht so für dich da war, wie ich es hätte sein sollen.«
Sebastian drückte die Handflächen gegen seine Augen und ließ die Hände zwischen die Knie sinken. Er schaute zu seinem Vater auf, der neben ihm stand, dann atmete er tief durch, und das Brennen hinter seinen Augen ließ nach. »Sie hat es dir auch nicht gerade leicht gemacht.«
»Such nicht nach Entschuldigungen für mich. Ich hätte mehr kämpfen, noch mal vor Gericht gehen können.« Seine Hand legte sich auf Sebastians Schulter und drückte sie sanft. »Ich hätte vieles tun können. Ich hätte irgendwas unternehmen sollen, aber ich … Ich dachte, die Streiterei
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