Frisch verlobt
verschwindest. Und ich will dich nie wieder sehen. Unter keinen Umständen.“
Was sie am meisten daran ängstigte, war die Ruhe, mit der er das sagte. Wie leicht ihm die Worte über die Lippen kamen, die sie in tiefster Seele zerrissen.
Halb erwartete sie schon, ihren Körper zerfetzt und blutig auf dem Boden zu sehen, als sie nach unten blickte, aber der ganze Schmerz war in ihrem Inneren.
„Matt, bitte“, bettelte sie.
Er aber riss nur die Tür auf und starrte hinaus. „Geh einfach.“
Das Gehen erforderte all ihre Kräfte. Jesse schaffte es kaum die Treppe hinunter bis zu ihrem Auto. Sie kroch auf den Vordersitz und heulte, bis sie nicht mehr atmen konnte. Bis die Leere sie zu verschlingen drohte. Bis ihr nichts mehr geblieben war.
Und das war die hässliche Wahrheit ihres Lebens. Alle, die sie jemals geliebt hatte, wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben. Niemand glaubte ihr. Niemand war bereit, ihr noch eine Chance zu geben.
Nicole sah Raoul zu, der seine Habseligkeiten ins Haus schleppte. Sie schielte auf die schwarzen Mülltüten und nahm sich vor, ihm bei nächster Gelegenheit ein paar Koffer zu kaufen. Niemand sollte alles, was er besaß, in Mülltüten mit sich tragen müssen.
„Die Schlafzimmer sind oben“, sagte sie und ging ihm voran. „Ich werde dich im Gästezimmer unterbringen.“
Sie hatte mit sich gekämpft, ob sie ihm stattdessen Jesses Zimmer geben sollte, sich dann aber dagegen entschieden. Trotz allem was gerade geschehen war, ging sie doch davon aus, dass ihre Schwester an irgendeinem Punkt wieder dort einziehen könnte. Nicht, dass Nicole auch nur ansatzweise daran dachte, dies könnte im Augenblick der Fall sein, aber irgendwann einmal … vielleicht.
„Danke, dass Sie das für mich tun“, sagte Raoul.
„Gern geschehen.“ Mit einer Handbewegung forderte sie ihn auf, das Gästezimmer zu betreten. „Das Badezimmer ist hinter dieser Tür. Ein paar Handtücher habe ich bereits rausgelegt. Weitere liegen in der untersten Schublade. Du hast einen Fernseher hier. Es ist mir gleich, was du dir ansiehst, aber ich wäre dir dankbar, wenn du nach neun den Ton leise stellen könntest. Hier ist auch ein Telefon, aber ich muss früh aufstehen, deshalb bitte keine späten Anrufe mehr, okay?“
Etwas unbehaglich nickte er.
„Es ist schon seltsam“, fuhr Nicole fort, und das gehörte nicht zu der Ansprache, die sie vorbereitet hatte. „Wir kennen uns nicht besonders gut, und dann bin ich auch noch dein Boss. Deshalb fühlen wir uns wohl beide etwas unbehaglich. Aber es wird sich legen.“
„Ich weiß.“ Er schob die Hände vorn in die Hosentaschen. „Sie können mir ruhig sagen, was ich tun muss. Das geht in Ordnung. Ich werde auf Sie hören.“
Gut zu wissen. Wenn ihre Schwester doch nur auch auf sie gehört hätte. Dann wäre vieles sehr viel leichter.
„Dann darf ich dich also herumkommandieren?“, fragte sie und versuchte, die Spannung ein wenig zu lockern.
„Klar.“
Nicole lächelte. „Dann komm mal mit nach unten. Du kannst mir sagen, welche meiner Lebensmittel viel zu sehr Frauenkram sind, und eigene Vorschläge machen.“
Sie gingen in die Küche, und dort notierte sie sich seine Wünsche nach Müsli, Limonade und Snacks.
„Mittags isst du in der Schule?“, fragte sie ihn.
„Mhm.“
„Das ist gut. Und sag mir Bescheid, wenn du zum Abendessen nicht nach Hause kommst. Oh, und wenn deine Vorräte zu Ende gehen, dann schreib es mir auf, und ich kaufe es nach.“ Sie zeigte ihm, wo ihre Einkaufsliste lag.
„Das ist viel zu nett von Ihnen“, erklärte er.
„In diesem Gebäude kannst du einfach nicht bleiben, Raoul. Kein Mensch sollte so leben.“ Sie sah ihm in die Augen. Er wirkte zugleich hoffnungsvoll und beschämt. Nicole hätte ihm gerne gesagt, dass das alles nicht seine Schuld war, dass ihn viele Leute im Stich gelassen hatten, seine Familie, das Sozialsystem, und wer weiß, wer sonst noch.
Stattdessen sagte sie: „Die Situation kann uns auch ein paar peinliche Momente bescheren.“ Sie wünschte, das nicht thematisieren zu müssen, wusste aber, dass es dazu kommen würde. „Die Leute könnten reden. Ich meine, weil wir zusammenwohnen.“
Sie machte eine Pause und merkte, wie sie rot wurde. Musste sie es ihm etwa noch buchstabieren?
Endlich schien er zu begreifen, und plötzlich sah er sehr viel älter aus als achtzehn. „Weil ich bei einer schönen Frau wohne, die Single ist?“
Wie schmeichelhaft, dachte sie und verkniff sich ein
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