Frostblüte (German Edition)
aufwärts bereits merklich kälter. Ich schmiegte mich in mein neues Lederwams und war für die zusätzlichen Kleiderschichten dankbar.
»Wollen wir zu diesem Bergkamm hinauf?«, fragte ich Luca mit einem Blick auf das, was lediglich wie ein schwarzer horizontaler Streifen auf der Bergseite aussah.
»Etwas tiefer«, sagte Luca und hielt die Hand vors Gesicht, weil ihn die Sonne blendete. Er schien nichts von der Verlegenheit oder Sorge zu empfinden, die mich belastete, und wie immer war sein Selbstvertrauen ansteckend. »Razia hat von einem Plateau berichtet, auf dem wir ein Lager aufschlagen können. Wir müssen vielleicht ein paar Felsbrocken aus dem Weg räumen, aber das wird es wert sein.«
Ich nickte und zwang mich, den Blick von seinem Gesicht abzuwenden. Ich hielt Ausschau nach Arian und entdeckte ihn ganz am Ende des sich langsam vorwärtsbewegenden Soldatentrupps. Er half, die Bündel auf dem Rücken eines der struppigen Bergpferde neu zu verteilen. Das Tier bewegte sich unruhig und warf den Kopf hin und her, während der zuständige Bergwächter hilflos zusah. Doch Arians kantige, fachkundige Hände beruhigten das Tier, so dass der andere Mann die Bündel umpacken konnte.
»Er ist schon immer gut mit Tieren klargekommen«, sagte Luca mit einem Lächeln in der Stimme.
Ich biss mir auf die Lippe. Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte das Band zwischen den adoptierten Brüdern sehen. Arians Vergangenheit und die Ereignisse, die ihn zu einem so komplizierten und schwierigen Mann gemacht hatten, waren allerdings noch immer undurchschaubar. Auch wenn Luca mir in der Nacht zuvor seine eigene Geschichte erzählt hatte – über die Geschichte des Missbrauchs, die auf Arians Rücken geschrieben stand, hatte er geschwiegen. Trotz der Zeit, die wir beim Training miteinander verbracht hatten, fühlte ich, dass ich von Arian nicht mehr wusste als bei meiner Ankunft im Lager.
Würde Arian irgendwann akzeptieren können, dass jemand Neues in Lucas Leben getreten war? Vor allem jemand, der wichtig für Luca war und ihm auf eine Weise nahestand, wie es Arian niemals könnte? Die Eifersucht und der Beschützerinstinkt, den Arian an den Tag legte, machten schmerzhaft deutlich, dass Luca alles war, was Arian hatte – alles, was ihm etwas bedeutete. Und während der Zeit, in der Lucas Cousin sie beide versteckt gehalten hatte, um sie vor dem Wahnsinnigen König zu schützen, war Arian für Luca ebenfalls der einzige Mensch gewesen, dem er trauen und auf den er sich verlassen konnte. Doch nun schaffte Luca in seinem Herzen Raum für mich. Würde Arian sich verstoßen fühlen? Im Stich gelassen? Wenn dem so war, was konnte ich bloß tun, um das zu ändern?
»Worüber grübelst du nach?«, fragte Luca und unterbrach meine Gedanken. »Wenn du die Stirn noch mehr runzelst, wirst du mich in Stein verwandeln.«
»Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo ich bin«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln. Es war jetzt nicht die Zeit, um ihn mit meinen Ängsten zu belasten. »Wie weit ist es von hier zur Tempelfestung?«
»Vom Bergkamm ist es noch etwas mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch«, sagte Luca. »Lass uns an die Spitze des Zuges gehen, dann kann ich dir den Pfad zeigen, dem wir folgen müssen.«
Wir liefen rasch an den Soldaten vorbei, die nur langsam vorankamen, bepackt mit all den Sachen, die nicht auf die Rücken der stämmigen Bergpferde passten. Sie winkten uns freundlich zu, als wir sie überholten.
Der Boden unter meinen Füßen war eher Sand als Erde – ein feiner, silbriger Sand, der das Sonnenlicht reflektierte und meine Augen brennen und tränen ließ. Auf dem Pfad lag graues und weißes Geröll, von kleinen Schiefersplittern, die unter unseren Füßen wegrutschten, bis hin zu Felsbrocken, die beinahe so groß waren wie das Haus, in dem ich als kleines Mädchen gelebt hatte.
Auf der einen Seite der beharrlich dahintrottenden Bergwächter ging es steil nach unten: eine senkrechte Felswand fiel zehn Meter tief zum Mesgaofluss ab. Wir waren hier mitten in den Bergen und der Fluss hatte sich verändert. Das Wasser floss nicht mehr grün und sanft in einem breiten Flussbett, sondern rauschte und schäumte in hartem, eisigem Blau durch die enge Schlucht. Auf der anderen Seite unserer Schar ragten die zerklüfteten Berge empor, die sich braun und schwarz vom Himmel abhoben.
Luca überholte die erste Reihe Soldaten und sprang leichtfüßig auf einen Felsen. Er zog mich hoch und drehte sich, um mir den
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