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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Estep
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gesehen, mich zu töten, wahrscheinlich die mysteriöse Gestalt, die ich schon vorher zwischen den Regalen bemerkt hatte …
    Ich blinzelte und stoppte meine hastige Bewegung. Mein Arm erstarrte einfach mitten in der Luft – denn die Galerie war leer. Mein Blick huschte von rechts nach links, von oben nach unten, aber das Bild blieb gleich. Kein Schnitter stürzte sich aus den Schatten. Langsam senkte ich den Arm. Ich sah mich genau um, musterte intensiv die Holzbalken, Steine und Statuen, aber da war niemand. Trotzdem fühlte ich, dass mich jemand beobachtete – eine echte, lebende Person und nicht nur die Statuen, deren Köpfe mir zugewandt waren.
    Ich drehte mich, sodass mein Rücken gegen Nikes Füße drückte, und stellte sicher, dass Vic in Reichweite lag, nur für den Fall, dass doch noch Schnitter auftauchten. Dann vertiefte ich mich wieder in meine Grübelei.
    Ich saß noch nicht lang am Fuß der Statue, vielleicht fünf Minuten, als ich wieder Schritte hörte. Ich verspannte mich, aber diese Person versuchte gar nicht, ihre Anwesenheit zu verbergen. Sie trat um eine Ecke und kam in Sicht, dann zögerte sie einen Moment, bevor sie die Schultern zurücknahm, zu mir ging und sich neben mir auf den Boden sinken ließ.
    »Ich dachte mir schon, dass ich dich hier finden würde«, sagte Rory.
    »Gratulation, Sherlock Holmes«, murmelte ich.
    »Deine Göttin, hm?«, meinte sie und drehte den Kopf, um zu der Statue aufschauen zu können.
    »Ja.«
    Ein paar Minuten sagte keiner von uns etwas. Im Moment wollte ich am liebsten nie wieder mit Rory sprechen. Doch bald schon stiegen die Fragen in mir auf, und ich konnte mich nicht davon abhalten, die Antworten hören zu wollen. Ich wollte noch das letzte, hässliche Detail dieses dunklen, dreckigen Familiengeheimnisses erfahren, das plötzlich für alle offenlag – unter anderem für mich.
    »Du hättest es mir einfach erzählen können«, sagte ich schließlich mit fast brechender Stimme.
    Sie zog eine Grimasse. »Ich weiß. Und es tut mir leid. Es ist nur … es tut weh, weißt du? Es tut so verdammt weh.«
    Ich wusste es nicht, trotzdem kostete es mich einen Moment, meinen Mut zu sammeln und die Frage zu stellen. »Was ist passiert?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Nicht genau. An einem Tag bin ich einfach ein Mädchen im ersten Schuljahr auf der Mythos Academy, beschäftigt mit den Kursen und den Professoren und allem anderen. Am nächsten Tag sind meine Eltern tot. Dann kommt heraus, dass meine Eltern Schnitter waren und dass sie gerade versucht hatten, ein paar Artefakte aus der Bibliothek zu stehlen, als Covington sie erwischt hat. Doch statt sich zu ergeben, haben sie versucht, sich den Weg freizukämpfen, und haben dabei ein paar Schüler getötet, bevor es Covington gelang, sie zu erledigen.«
    Deswegen also mochte sie den Bibliothekar nicht – er hatte ihre Eltern getötet. Sicher, sie waren Schnitter gewesen, trotzdem war er für ihren Tod verantwortlich.
    Rory holte tief Luft und erzählte ihre Geschichte zu Ende. »Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, habe ich auch noch herausgefunden, dass meine Eltern schon seit Jahren heimlich Schnitter waren. Und der Rest … nun, den Rest hast du im Speisesaal gesehen.«
    »Es tut mir leid«, sagte ich. »Das ist schrecklich.«
    Sie zuckte wieder mit den Schultern. Offensichtlich wollte sie so tun, als sei es ihr egal; als täte es nicht weh. »Das Seltsame ist, dass meine Eltern ständig darüber geredet haben, wie wichtig es für mich sei, kämpfen zu lernen. Ein guter Spartaner zu sein, damit ich andere Leute vor den Schnittern beschützen kann. Und dann stellt sich raus, dass sie selbst Schnitter waren. Und sie waren nicht einfach irgendwelche Schnitter – sie gehörten zu den Schlimmsten der Schlimmen.«
    »Es tut mir leid«, wiederholte ich. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst sagen sollte. Keine Worte der Welt konnten es besser machen. Nicht für sie – und auch nicht für mich.
    Rory lachte bitter. »Und weißt du, was wirklich verdreht ist? Ich liebe sie immer noch. Sie waren meine Eltern, und sie waren Schnitter, aber ich liebe sie trotzdem. Ich wünsche mir immer noch, sie wären bei mir, nicht tot. Zu was für einer Art Person macht mich das?«
    »Einem Mädchen«, antwortete ich. »Einfach zu einem normalen Mädchen.«
    Rory spielte an einem losen Faden an ihrer Jeans herum. Sie sah mir nicht in die Augen. Wäre ich nicht davon überzeugt gewesen, dass sie

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