Frozen Time (German Edition)
mustert uns, als wolle er sehen, wie wir seine Erzählung aufnehmen.
»Ich selbst lebe bereits seit etwa drei Jahren hier unten. Genau weiß ich es nicht. Zurzeit sind wir knapp zwanzig. Manche bleiben, manche gehen wieder, weil sie es nicht ertragen hier unten in der Dunkelheit. Ich habe keine Ahnung, was aus ihnen wird, aber noch hat uns keiner verraten. Zumindest lassen uns die Officer in Ruhe. Entweder haben sie uns wirklich noch nicht entdeckt, oder sie nehmen es hin, weil wir ihnen keinen Ärger machen, oder sie gehen davon aus, dass wir eh alle längst verreckt sind.«
Robin kratzt sich mit der Hand durch die störrischen roten Locken und lacht so heiser, dass es wie ein Husten klingt.
»Aber wie könnt ihr so leben?« Milo zeigt beinahe anklagend auf den Raum mit den uralten Möbeln. Milo hat viel mehr aufgegeben als ich, als er mit mir zusammen vor den Officern geflüchtet ist. Er hatte ein Leben, eine Karriere, ich habe nicht einmal meine Erinnerungen.
»Man gewöhnt sich dran.« Robin zieht eine Grimasse. »Es ist gar nicht so schlecht, wir haben ja alles. Was wir brauchen, können wir aus den Entsorgungseinheiten abzweigen. Nicht zu viel natürlich, sonst würde es auffallen. Deshalb tragen wir unsere Kleidung länger als einen Tag und spülen unser Geschirr, anstatt es wegzuwerfen. An Kleidung und Stoffe kommt man am leichtesten, elektronische Geräte oder größere Gegenstände sind schwieriger zu beschaffen.« Robins Stimme klingt entspannter als zuvor, beinahe stolz berichtet er über sein unterirdisches Reich.
»Die Möbel stehen hier in den entlegenen Kellerräumen einfachso herum. Sie stammen noch aus der Zeit vor der Großen Epidemie, wisst ihr. Unser Glück, dass die RecycleRobs nicht in jeden Winkel dieses weit verzweigten Kellerlabyrinths vorgedrungen sind. Wir haben einiges repariert. Den Strom zapfen wir an einer der Hauptleitungen ab; das fällt gar nicht auf, wenn da ein paar Lampen mehr dranhängen. Unser Wasser holen wir direkt aus dem Kanal und filtern es selbst. Das halten wir für gesünder, als uns an den Wasserleitungen zu bedienen. Eine ausgewogene Ernährung ist schwieriger zu gewährleisten, manchmal machen wir einen Ausflug vor die Metropole und bedienen uns auf den Feldern, da sind ja nur die AgrarRobs unterwegs, die verraten uns nicht. Ansonsten steht eine Menge Fisch auf dem Speiseplan. Natürlich bereiten wir alle unsere Mahlzeiten selbst zu, gar nicht so leicht, aber ihr werdet es lernen.«
Ich kann mir ein Grinsen in Milos Richtung nicht verkneifen. Fisch auf dem Speiseplan, das wird ihn sicher nicht freuen. Doch Milo scheint viel zu beschäftigt damit zu sein, alle Informationen zu verdauen, um sich darüber Gedanken zu machen.
»Warum haltet ihr euer Wasser für gesünder?«, hakt er misstrauisch nach und schiebt sein Glas, das er bisher immer noch nicht angerührt hat, demonstrativ ein Stück von sich weg.
»Keine Medikamente«, gibt Robin lapidar zur Antwort. Auf Milos und meinem Gesicht muss sich Unverständnis spiegeln, denn kopfschüttelnd fährt Robin fort: »Na, kommt schon, glaubt ihr wirklich, das gute, gesunde Wasser, das ihr tagtäglich trinkt, sei frei von Zusätzen? Wir können es nicht beweisen, weil uns die Mittel fehlen, um die entsprechenden Tests durchzuführen, aber vermutlich mischt unsere verehrte Regierung nicht nur Vitamine ins Wasser.«
»Sondern?« Milo klingt schon wieder eine Spur aggressiv.
»Tja. Was glaubt ihr wohl?«, erwidert Robin ein bisschen spöttisch.
»Antikonzeptiva und Antidepressiva zum Beispiel«, antworte ich automatisch. Wie so oft ist das Wissen darüber einfach da, und ich weiß nicht, woher ich es habe.
»Verhütungsmittel und Stimmungsaufheller?« Milo starrt mich an, als hätte er mich vorher noch nie gesehen. »Woher willst du das wissen?«
Ja, woher eigentlich?
Robin habe ich mit meiner spontanen Antwort ebenfalls aus dem Konzept gebracht. »Bist du auch Medi?«, hakt er erstaunt nach.
»Noch nicht, aber wohl ziemlich wissbegierig«, versuche ich zu erklären.
Robin schaut noch immer ziemlich verwirrt, und Milo, der den Schock überwunden zu haben scheint, kommt mir zu Hilfe.
»Sie kann sich nicht erinnern. Retrograde Amnesie«, erklärt er.
Statt einer Erwiderung lacht Robin nur sein raues Lachen. Ich weiß nicht, ob er den Fachbegriff verstanden hat, aber er gibt sich mit der Erklärung zufrieden. Überhaupt hat er bisher nicht versucht, viel über uns herauszufinden. Und das verwundert mich nun doch.
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