Fruchtbarkeit - 1
Norine gehen. Sie allein können mit ihr reden, sie vielleicht umstimmen … Gehen wir langsam; ich ersticke fast, so glücklich bin ich!«
Tiefgerührt war Mathieu an ihrer Seite weitergegangen. Sie bogen um die Ecke der Rue Miromesnil, und auch ihm schlug das Herz, als sie die Treppe des Hauses der Hebamme hinaufgingen. Zehn Jahre schon! All das Entsetzen von einst faßte ihn wieder, er sah wieder das kleine verdutzte Gesicht der Victoire Coquelet, die von dem Sohne ihrer Herrschaft schwanger war, sie wußte nicht wieso, das unschuldige Antlitz Rosines, der jungfräulichen Blutschänderin, einer tragischen Lilie gleich, die entsetzliche Erscheinung der Madame Charlotte, die halbtot in ihren Alkoven zurückkehrte, um dort zu lügen, vielleicht zu sterben. Und dann, als die Kinder zur Welt gekommen waren, erschien das unheimliche Profil der Couteau, der Mörderin, die stets bereit war, die Säuglinge zu befördern, welche man auflädt und ablädt gleich lästigen Paketen. Das alles schien gestern geschehen, denn das Haus hatte sich nicht verändert: es schien ihm, als erkenne er an den Türen in den Stockwerken dieselben Schmutzflecken.
Im Zimmer oben wurde Mathieu noch stärker von dem Gefühl erfaßt, daß er erst gestern hier gewesen sei. Es war noch immer dasselbe Zimmer, mit seiner perlgrauen, blaugeblumten Tapete, mit seiner armseligen zusammengetragenen Hotelzimmereinrichtung. Die drei Eisenbetten standen noch wie damals, zwei nebeneinander, das dritte querüber. Auf dem einen lag ein geschlossener Handkoffer neben einem Reisesack, welchem bescheidenen Gepäck er zuerst keine Aufmerksamkeit schenkte, das aber die Ähnlichkeit vollendete. Und gegenüber den sonnenerhellten Fenstern hinter der großen grauen Mauer bliesen dieselben Trompeten aus der benachbarten Kaserne dieselben Fanfaren.
Auf dem offenen Bette saß Norine, die schon kräftig genug war, um ein wenig herumzugehen, und die sich eben angekleidet hatte, und reichte ihrem Kinde die Brust.
»Wie, Sie sind es, Monsieur?« rief sie, als sie Mathieu erblickte. »Wie schön von Cécile, daß sie Sie hergeführt hat! Ach Gott, was man alles erlebt! Man wird nicht jünger dabei.«
Er sah sie an, und sie schien ihm in der Tat sehr gealtert, rasch welk geworden nach Art gewisser Blondinen, die, einmal über die dreißig hinaus, kein bestimmbares Alter mehr haben. Gleichwohl war sie noch immer angenehm, ein wenig zu dick geworden, von müdem Aussehen, obschon sie ihre Sorglosigkeit bewahrt zu haben schien, die nun aus stark verminderter Selbstachtung entsprang.
Cécile wollte ohne Umschweife zur Sache kommen.
»Da ist deine Schokolade. Ich habe Monsieur Froment auf der Straße begegnet, er ist so gut und nimmt solchen Anteil an mir, daß er so freundlich war, sich für meinen Plan zu interessieren, ein Zimmer zu mieten, wo du mit mir arbeiten könntest. Da habe ich ihn nun gebeten, auf einen Augenblick mit heraufzukommen, um mit dir zu reden und dich zu bestimmen, das arme Kind zu behalten. Wie du siehst, wollen wir dich nicht überrumpeln, denn ich sage es dir zum voraus.«
Norine geriet in Bewegung und protestierte.
»Was sind das nun wieder für Geschichten! Nein, nein, ich will mich nicht quälen lassen, ich bin schon zu unglücklich!« Nun fiel Mathieu ein, stellte ihr vor, daß das leichtsinnige Leben sich in ihrem Alter nicht so weiterführen lasse, daß sie immer tiefer und tiefer sinken müsse, wenn sie auf die Straße zurückkehre. Er fand sie hierin ganz seiner Ansicht, sie sprach mit Bitterkeit von der Existenz einer Prostituierten, als ein enttäuschtes Mädchen, die von den Männern nichts mehr erwartet als Lügen, Schläge und Elend. Es war die herbe Wirklichkeit, an welcher der Traum eines freien, glänzenden Lebens zerschellt, dem sich so viele hübsche Pariser Arbeiterinnen hingeben. In den Werkstätten verdorben, trachten sie, sich so teuer als möglich zu verkaufen, um sich den Luxus zu verschaffen, den sie in den Schaufenstern der teuern Geschäfte mit den Augen verschlingen, und sinken schließlich zu Straßendirnen herab, nachdem sie, als Preis für ihre Schönheit, von den Männern nichts andres erlangt haben, als einzig die Gefoppten zu sein mit jenen schrecklichen zufälligen Schwangerschaften, jenen unglückseligen Kindern, deren sie sich dann entledigen, wütend, sich betrogen zu sehen. Sie war nun erbittert gegen diese Existenz, ohne Brot, ohne die Möglichkeit eines Erwerbes, ohne Jugend und ohne Hoffnung. Aber was konnte
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