Fruchtbarkeit - 1
sie tun? Wenn man einmal im Sumpf steckt, gibt es kein Entrinnen mehr.
»Ach ja, ach ja, ich habe genug von diesem verdammten Leben, das man sich so lustig vorstellt, wenn man jung ist, und wo man oft nicht einmal satt zu essen hat, ohne von den Scheußlichkeiten aller Art zu reden… Heute ist mir das wie ein Stein am Halse, ich meine, ich muß ersticken. Aber da gibt es keine Rettung mehr, es erwartet mich, ich werde wieder dahin zurückkehren, bis man mich in irgendeinem Winkel aufklaubt, um mich im Spital verenden zu lassen.«
Sie hatte das mit der wilden Verzweiflung eines Weibes gesagt, der plötzlich ihr unentrinnbares Schicksal vor Augen steht. Dann blickte sie auf das Kind, das immer noch trank.
»Es ist besser, wenn er seinen Weg geht und ich meinen. Dann werden wir uns nicht behindern.«
Ihre Stimme war weicher geworden, und über ihr verzweifeltes Gesicht glitt ein unendlich sanfter Ausdruck. Und Mathieu, der erstaunt diese neue Regung bei ihr gewahrte, die sie nicht eingestand, beeilte sich zu sagen:
»Er soll seinen Weg gehen, das heißt den kürzesten Weg zum Tode, jetzt, da Sie angefangen haben, ihn zu nähren.«
Sie geriet wieder in Erregung. »Kann ich was dafür? Ich habe mich genug geweigert, ihm die Brust zu reichen. Sie kennen ja meine Gedanken hierüber, und ich bin in Zorn geraten, ich hätte mich beinahe mit Madame Bourdieu geschlagen, wie sie mir ihn mit Gewalt in die Arme legte. Aber dann, was wollen Sie? Er hat so vor Hunger geschrien, das arme Geschöpf, er schien so sehr zu leiden, weil ich mich ihm versagte, daß ich die Schwachheit gehabt habe, ihn ein ganz klein wenig trinken zu lassen, indem ich mir fest vornahm, es nicht wieder zu tun. Aber am nächsten Tag hat er wieder so geschrien, und ich habe es doch wieder tun müssen. Das alles ist nur mein Unglück. Man hat kein Erbarmen mit mir gehabt, man hat mich nur viel, viel unglücklicher gemacht, denn nun ist der Tag bald da, wo ich gezwungen sein werde, mich seiner zu entledigen wie der beiden andern.« ‘
Tränen standen in ihren Augen. Es war die häufig wiederholte Geschichte des Mutter gewordenen Mädchens, die man schließlich dazu gebracht hat, ihr Kind einige Tage lang trinken zu lassen, in der Hoffnung, daß es ihr ans Herz wachsen werde, daß sie sich nicht mehr werde davon trennen wollen. Man tut dies in der vornehmlichen Absicht, es zu retten, denn es gibt keine andre gute Amme als die natürliche Amme, die Mutter. Sie hatte auch instinktiv gefühlt, welche Falle man ihrer Mutterliebe damit stellen wolle, und hatte sich gesträubt, indem sie nicht ohne Grund rief, daß man eine solche Verrichtung nicht anfange, um dann wieder aufzuhören. Sobald sie nachgegeben hatte, war sie gefangen, ihr Egoismus wurde überwältigt von der Flut von Mitleid, Liebe und Hoffnung, die ihr Herz überschwemmte. Das arme Geschöpf war schwächlich und blaß, und wog nicht schwer an dem Tage, da sie es zum ersten Male stillte. Von da ab hatte man es jeden Tag gewogen und hatte am Fußende des Bettes eine Tabelle mit der graphischen Darstellung der Gewichtsunterschiede aufgehängt. Anfangs hatte sie sich dafür nur wenig interessiert und nur hie und da einen gleichgültigen Blick darauf geworfen. Aber in dem Maße, als die Kurve anstieg und deutlich zeigte, wie sehr das Kind zunahm, hatte sie dafür eine wachsende Aufmerksamkeit bekundet. Plötzlich hatte sich, infolge eines Unwohlseins, die Kurve gesenkt; von diesem Tage ab erwartete sie die Stunde des Wägens mit fieberhafter Ungeduld und stürzte sich sogleich auf das Blatt, um zu sehen, ob die Linie wieder aufwärts ging. Und als die Kurve wieder ihre steigende Richtung angenommen hatte, lachte sie vor Freude, nahm fortan ein leidenschaftliches Interesse an dieser dünnen, schwachen Linie, die immer weiter stieg, die ihr sagte, daß ihr Kind gerettet sei, daß es dieses wachsende Gewicht, diese zunehmende Kraft aus ihr sauge, aus ihrer Milch, aus ihrem Körper, aus ihrem Blut. Sie vollendete seine Lebensfähigkeit, das endlich erwachte Muttergefühl entfaltete sich in ihr zu einer Blüte der Liebe.
»Wenn Sie es töten wollen,« wiederholte Mathieu, »so haben Sie nichts zu tun, als es wegzugeben. Sehen Sie nur, wie er sich gütlich tut, der liebe Kleine!«
In der Tat, er sog aus Leibeskräften. Sie brach in heftiges Schluchzen aus.
»Mein Gott, jetzt fangen Sie wieder an, mich zu quälen! Glauben Sie denn, daß ich ihn mit Freuden wieder weggebe? Sie zwingen mich, Ihnen Dinge zu
Weitere Kostenlose Bücher