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Fruchtbarkeit - 1

Fruchtbarkeit - 1

Titel: Fruchtbarkeit - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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einen Kopf zu sammeln, in Haß und Abscheu gegen die Teilung. Aber die Theorien, die er bei den Séguin vernommen, beherrschten ihn noch immer, denn er konnte die Tatsachen nicht leugnen: die geistig Höchststehenden waren zweifellos die wenigst Fruchtbaren, die Kinder wuchsen nirgends in größerer Zahl hervor als auf dem Kehrichthaufen des Elends. Nur aber war dies eine soziale Erscheinung, die hauptsächlich von dem Zustand der Gesellschaft abhing, in welcher sie zutage trat. Das Elend wird verursacht durch die Ungerechtigkeit der Menschen und nicht durch die Kargheit der Erde, welche die zehnfache Zahl von Bewohnern nähren könnte, an dem Tage, da die große Frage geregelt, die Arbeit, als unentbehrlich für die Gesundheit und die Lebensfreude, auf alle verteilt wäre. Wenn es auch wahr blieb, daß zehntausend Glückliche besser seien als hunderttausend Unglückliche, warum sollten aber jene hunderttausend Unglücklichen, welche, wie man sagte, zu viel waren, nicht daran arbeiten, ihre Lebensverhältnisse zu erweitern, um ebenso glücklich zu werden wie die zehntausend Bevorzugten, deren selbstsüchtiges Wohlbefinden man versichern wollte, indem man die Natur kastrierte? Und es war wie eine Erlösung, wie ein unendlich belebender Hauch, als die Gewißheit ihm wiederkehrte, daß es die Fruchtbarkeit war, die die Zivilisation geschaffen hatte, daß es das Zuviel an Menschen, diese Vermehrung der Armen, die ihrem Anteil am Glücke zustrebten, war, was die Völker Ruck um Ruck emporführte, bis zur Eroberung der Wahrheit und Gerechtigkeit. Es mußte zu viel Menschen geben, damit die Entwicklung sich vollziehe, die Menschheit sich über die Welt ergieße, sie bevölkere, ihr den Frieden gebe, aus ihr all das blühende und segensreiche Leben sprießen lasse, womit sie durchdrungen war. Da die Fruchtbarkeit die Zivilisation schafft, und da diese wieder jene regelt, so war die Voraussicht erlaubt, daß an dem Tage, da die Zeit erfüllt sein wird, da es nur ein Volk auf der vollkommen bewohnten Erde geben wird, sich auch ein endgültiges Gleichgewicht ergeben wird. Aber bis dahin, durch die tausend und tausend Jahre, die dazwischen liegen, war es recht getan, wohl getan, nicht ein Saatkorn zu verlieren, sie alle der Erde anzuvertrauen, wie der Säer, dem die Ernte nie zu viel sein kann, diese Ernte von Menschen, wo jeder Mensch mehr eine Kraft und eine Hoffnung ist.
    Das unaufhörliche, undeutliche Murmeln, das Mathieu durch das offene Fenster aus der warmen Frühlingsnacht hereinkommen hörte, war ihm nun nichts andres als das Beben der ewigen Fruchtbarkeit. Er horchte hinaus, er fühlte sich berührt von diesem Beben, wie von dem schwachen Atem Mariannens, die noch immer nicht schlief, unbeweglich an seiner Seite lag, ohne ein andres Lebenszeichen, als diesen leichten Atem, der seinen Hals streifte. Alles keimte, alles sproßte, eröffnete sich dem Leben in dieser Jahreszeit der Liebe. Aus dem unermeßlichen Himmel, aus den flimmernden Sternen strömte das Gesetz der ewigen Begattung, der Trieb, der die Welten regiert. Der weiten Erde, die im Schatten der Nacht lag wie ein Weib im Arm des Gatten, entstiegen die Glückslaute der zeugenden Lust, das leise Murmeln der glücklichen Gewässer, die Milliarden fruchtbarer Eier in sich hielten, der tiefe Atem der Wälder, die von brünstigen Tieren belebt waren, der Bäume, in deren Adern der Saft emporstieg, das Vibrieren der Felder, in denen an Millionen Stellen die keimenden Samen zum Lichte drängten. Und, wie er das häufig gedacht hatte – wieviel verlorene Körner, wieviel verdorrter oder verfaulter Samen, welch unermeßlicher Verlust, den die unerschöpfliche Natur unaufhörlich ersetzt! Aber nie hatte er stärker gefühlt, daß, wenn im Tier, in der Pflanze das Leben gegen den Tod kämpft, mit heißer, unermüdlicher Energie der Mensch allein den Tod will und ihn herbeiführt. In dieser warmen Mailandschaft, die von der fruchtbaren Umarmung aller organischen Wesen vibrierte, gab es nur zwei absichtlich unfruchtbare Liebende, jenes fröhliche und liebenswürdige Mörderpaar, das sich dort unten am Ufer der Yeuse im Schatten der Weiden umarmte, mit den Künsten steriler Leidenschaft, die von Poeten besungen wurde.
    Da waren alle Reflexionen, alle Vernunftbeweise bei Mathieu hinweggefegt, und es blieb nichts als die Begierde, die unersättliche und ewige Begierde, welche die Welten erschaffen hat, welche sie fortwährend noch immer schafft, ohne daß weder Empfängnis

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