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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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ein Schatten huschte er im Morgengrauen über die verschneite Moorwiese, rechter Hand vorbei am dunklen Wald, in den er längst hätte eintauchen können.
    »Na los! Fasst ihn!«, schrie der Gruppenführer.
    Seine Männer rannten los. Sie spürten die weiche Wiese unter ihren Sohlen, denn zuletzt hatte es zwar geschneit, aber die Temperaturen waren außergewöhnlich mild gewesen und der Boden nicht gefroren. Mit einem Mal ragte büschelweise hohes Gras vor den SS-Männern aus dem Schnee. Sie verloren darüber keinen Gedanken, rannten weiter und dann – als wären ihre Füße in Fallstricke geraten – fielen sie kopfüber nieder. Mit gestrecktem Körper klatschten sie flach auf den Boden, wie schwere Sandsäcke, die von weit oben auf feuchten, tiefen Boden geworfen werden. Lois hatte seine Verfolger in die Moorwiese gelockt. Plötzlich hatten die SS-Männer keinen festen Grund mehr unter den Füßen gehabt, ihre Beine waren knietief ohne Vorwarnung eingesaugt und vom zähen Schlamm festgehalten worden.
    Die Moorwiese rülpste und schmatzte und ließ sich kneten von den SS-Männern, die sich ungeschickt aufrafften, um wieder auf die Beine zu kommen. Mit rudernden Bewegungen versuchten sie vorwärts zu kommen. Doch je weiter sie wateten, desto schwerer wurden ihre Schritte und desto tiefer das Moor. Bald steckten sie bis zu den Oberschenkeln im kalten Morast. Und noch immer trieb sie der hinter ihnen plärrende Gruppenführer voran. Vor sich sahen sie nur noch eine Ahnung von Lois. Er huschte dahin und schien immer schneller zu werden. Tatsächlich berührte er den Moorboden kaum. Er glitt darüber, indem er seine Schritte flink aber gezielt auf die festen Grasbüschel und Moospulte setzte, die aus dem Moor ragten wie Steine aus einem Fluss.
    »Verdammt!«, schrie der SS-Gruppenführer. Vor sich sah er seine Männer. Sie steckten hilflos bis zur Hüfte im Moor.
     
    * * *
     
    Das nördliche Waldviertel ist reich an Sumpfwiesen, Tümpeln, stehenden Wasserflächen, Teichen und Mooren. Erhalten blieben diese Biotope dank des rauen Klimas und der Lage des Landes auf einem durchschnittlich fünfhundert bis sechshundert Meter hohen Granitplateau. Dessen Einbuchtungen schufen jene Wannen, in denen sich Niederschlagswasser sammeln konnte. Feine Sedimente sorgten schließlich für die Abdichtung der Wasserreservoire nach unten, kalte Witterung und hohe Luftfeuchtigkeit verhinderten die Wasserverdunstung nach oben hin.
    Einst war das Waldviertel Teil eines mächtigen Hochlands, des Variskischen Gebirges, von dem Geologen annehmen, dass es die höchste Erhebung war, die es je auf der Erde gab. Vor Millionen von Jahren begann sich dieses Hochland zu senken. Dauerregen und Verwitterung trugen Erdschichten ab, woraufhin markante Felsformationen übrigblieben – und die für die Gegend typischen Restlinge: aus der Erde ragende und vom Wetter abgerundete Reste der unterirdischen Granitmassen.
     
    * * *
     
    Vor der Restlinggrube*, die ich als Versteck gewählt hatte, sah ich im Schnee die Spuren meiner Familie. Kannst du dir vorstellen, mein kleiner Fuchs, welchen Satz mein Herz in diesem Moment gemacht hat? Ich war gerade den Nazis entkommen, und die frischen Spuren im Schnee zeigten mir, dass meine Familie am vereinbarten Ort schon auf mich wartete. Kaum hatte die Freude meine Anspannung verdrängt, kaum hatte sie mein Inneres aufgelockert wie ein Sieb schwere, nasse Erde, überkam mich wieder die Angst. Ich hatte den Meinen mehrfach eingeschärft, nur ja darauf zu achten, keine Abdrücke zu hinterlassen. Unsere Verfolger sollten nicht die Spur einer Ahnung haben, wo wir uns versteckten. Und nun sah ich Fußtritte so klar und deutlich vor mir wie frisch gesetzte Wegweiser. Wenigstens war es nur eine einzige Fußspur: jene von Frida. Sie war mit großen Schritten vorangegangen. In ihren Abdruck hatten meine Tochter Maria und mein Sohn Heinzi ihre Sohlen gesetzt. So musste es für Fährtenleser wenigstens so aussehen, als ob nur eine schwere Person hier entlanggegangen sei. Und nach einer Person suchten die Nazis ja nicht, sondern nach vier. Nach uns vier. Nach meiner Familie.
     
    Ich atmete durch und dann folgte ich den Spuren Fridas. Weißt du, in welche Richtung ich den Spuren folgte, mein kleiner, schlauer Fuchs? Weißt du, welchen Weg ich einschlug? Ganz genau, mein kleiner, schlauer Fuchs: Ich ging zurück. Ich ging nicht Richtung Versteck. Ich ging zurück, unseren Verfolgern entgegen. Erst als ich am Waldrand angekommen

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