Fuchsjagd
Fotografien von Pferden und Hunden. Über dem Kaminsims hing eine Porträtaufnahme von James' Mutter, und in einem Alkoven zur Rechten war ein Hochzeitsfoto von James und Ailsa.
Nancy kam sich vor wie eine Lauscherin auf der Suche nach Geheimnissen, wie sie vor dem Foto stand und Ailsa betrachtete. Sie war hübsch, mit einem charaktervollen Gesicht, das genaue Gegenteil von James' dunkelhaariger, herber Mutter. Eine blonde, zarte Frau, mit leuchtend blauen verschmitzten Augen wie die einer schlauen Siamkatze. Nancy war erstaunt. Sie hatte sich Ailsa ganz anders vorgestellt. In der Fantasie hatte sie ihr das Bild ihrer verstorbenen Adoptiv-Großmutter – einer zähen, runzligen Bäuerin mit knorrigen Händen und eigensinnigem Kopf – aufgedrückt und sie in eine furchteinflößende Matrone mit scharfer Zunge und wenig Geduld verwandelt.
Ihr Blick wurde von zwei weiteren Fotografien angezogen, die in einem ledernen Doppelrahmen auf dem Sekretär unterhalb des Hochzeitsfotos standen. Auf der linken Seite James und Ailsa mit zwei kleinen Kindern; auf der rechten die Porträtaufnahme eines Mädchen und eines Jungen von vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahren. Weiß gekleidet, hoben sie sich scharf von einem schwarzen Hintergrund ab, der Junge hinter dem Mädchen stehend, eine Hand auf ihrer Schulter, die Gesichter beider der Kamera zugewandt. Verlassen Sie sich auf mich, hatte Mark, gesagt, niemand würde sie jemals mit Elizabeth verwechseln. Er hatte Recht. Kein Funken eines Wiedererkennens regte sich in Nancy angesichts dieser grell geschminkten Barbie mit dem verdrießlichen Mund und dem gelangweilten Blick. Sie war das Abbild ihrer Mutter, aber ohne Ailsas Persönlichkeit.
Nancy sagte sich, es sei nicht fair, jemanden nach einem Foto zu beurteilen – besonders nach einem, das so gestellt war. Aber Leo trug den gleichen blasierten Ausdruck zur Schau wie seine Schwester. Sie konnte sich nur denken, dass die ganze Inszenierung die Idee der Geschwister gewesen war, denn aus welchem Grund sollten James und Ailsa eine so absonderliche Erinnerung an ihre Kinder gewollt haben? Leo interessierte sie. Von der Warte ihrer achtundzwanzig Jahre fand sie sein Bemühen, schwüle Erotik auszustrahlen, erheiternd. Aber sie war so aufrichtig, sich einzugestehen, dass sie ihn mit fünfzehn wahrscheinlich höchst attraktiv gefunden hätte. Er hatte das dunkle Haar seiner Großmutter und die Augen seiner Mutter, nur in einem etwas helleren Blau. Das ergab eine interessante Kombination. Nancy störte nur, dass sie in ihm mehr von sich erkennen konnte als in seiner Schwester.
Sie mochte sie beide nicht, hätte allerdings nicht sagen können, ob ihre Abneigung instinktiv war oder etwas mit Marks Bemerkungen zu tun hatte. Wenn die beiden sie an irgendetwas erinnerten – möglicherweise wegen der weißen Kleidung und Elizabeths falschen Wimpern –, dann an das trügerisch unschuldige Gesicht Malcolm McDowells in
A Clockwork Orange
, als er in einer Orgie gewalttätiger Selbstverwirklichung sein Opfer mit dem Messer bearbeitete. War das ihre Absicht gewesen? Hatte dies ein verschlüsseltes Bild der Amoralität werden sollen, dessen Inhalt ihre Freunde ergötzen und an ihren Eltern vorbeigehen sollte?
Das Speiseservice stand staubbedeckt auf der Kredenz, und sie hob einen Teil des Tellerstapels auf den Tisch, um saubere von unten zu nehmen. Man kann auch zu viel in ein Bild hineinlesen, sagte sie sich und rief sich die simplen Schnappschüsse von sich selbst ins Gedächtnis, die, größtenteils von ihrem Vater aufgenommen, überall zu Hause herumstanden. Was sagten diese einfallslosen Porträts über sie aus? Dass Nancy Smith eine authentische Person war, die nichts zu verbergen hatte? Wenn ja, dann würde es nicht stimmen.
Als sie die Teller wieder auf die Kredenz stellte, fiel ihr in dem Staub, wo sie gestanden hatten, ein kleiner herzförmiger Abdruck auf. Wer oder was hatte ihn hinterlassen? Er erschien ihr wie ein ergreifendes Symbol der Liebe in diesem kalten, toten Zimmer, und ein abergläubischer Schauder überlief sie. Man kann in alles zu viel hineinlesen, dachte sie mit einem letzten Blick auf die lächelnden Gesichter ihrer Großeltern an ihrem Hochzeitstag.
Fox wollte Wolfie wieder in den Bus schicken, aber Bella griff ein. »Lass ihn bleiben«, sagte sie und zog das Kind zu sich heran. »Der Junge macht sich Sorgen um seine Mutter und seinen Bruder. Er möchte wissen, wo sie sind, und ich hab ihm versprochen, dich
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