Führe mich nicht in Versuchung
Das konnte nur eins bedeuten.
Ihre Tante schloss für einen kurzen Moment die Augen. Auch sie verstand die Bedeutung dieser Worte. Seit Damien LadyLou über die Situation in Kenntnis gesetzt hatte, hatten sie beide in Gedanken versunken dagesessen und abgewartet.
Und nun war eine unwiderrufliche Entscheidung gefallen.
»Soll ich dich begleiten?« fragte LadyLou.
»Nein«, erwiderte Jillian. Sie konnte kaum ein Wort herausbringen, denn die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Sie legte ihre Stickerei, die sie bereits seit Stunden in der Hand hielt, ohne daran zu arbeiten, zur Seite und erhob sich. Obwohl sie keinen Stich getan hatte, waren ihre Hände ganz verkrampft. Auch LadyLou erhob sich, trat auf sie zu und zog Jillians jadegrünes Kleid zurecht. Dann strich sie ihr zärtlich über das Haar. »Du bist eine starke Frau, Jillian, und du weißt, was du willst. Das solltest du nie vergessen.«
LadyLous Bemerkung begleitete sie den Flur entlang und die Treppe hinunter. Ihre Tante konnte ihre Gefühle verstehen. Das gab ihr Selbstvertrauen und zerstreute ihre Zweifel.
Leider hatte sie ihre Courage schon wieder verlassen als sie im Salon eintraf.
Damien lehnte am Fenster und starrte mit zusammengebissenen Lippen auf die Straße hinaus.
Max stand am Kamin, die Arme vor der Brust verschränkt und bot ein weiteres grimmiges Profil dar, während er in die kalte Asche starrte. So sollte es nicht sein. Am liebsten wäre sie weggelaufen, um den Anblick eines Forbes und eines Hastings, die sich den Rücken zukehrten, aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Aber sie konnte nicht weglaufen.
Sie hatte diese Sache begonnen und musste sie nun auch durchstehen.
Ich habe das Richtige getan, tröstete sie sich. Wegen ihr hatten sie sich in ein und demselben Zimmer versammelt.
Jillian betrat den Raum mit hocherhobenem Kopf. Unter ihrem Rock aber zitterten ihr die Knie. »Ihr habt mich rufen lassen«, sagte sie.
Damien wandte sich vom Fenster ab, und Max hob den Kopf - der Panther und der Löwe, so still und aufmerksam, zum Sprung bereit, sollte sie sie in Wort oder Tat bedrohen. Diese Haltung beruhigte sie, denn sie bedeutete, dass sie nicht ohne Macht war.
»Setz dich, Jillian«, befahl Damien.
Sie gehorchte kommentarlos und begegnete zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte, Maxens Blick. In seinen Augen war kein vertrautes Zwinkern zu entdecken, auf seinen Lippen kein liebevolles Lächeln, und in seinem Gebaren lag keine Leichtigkeit, kein Vergnügen. Sie schenkte ihm ein kleines, tröstendes Lächeln, das ihm bedeuten sollte, dass alles gut werden würde.
Er wandte sich von ihr ab.
»Du und Max, Ihr werdet heiraten«, sagte Damien.
Ihr Blut begann durch ihre Adern zu rasen. Obwohl sie Damiens Worte erwartet hatte, war es doch ein Schock, sie zu vernehmen. Und obwohl sie mit einer gewissen Wut bei Max gerechnet hatte, war sie auf seine Gleichgültigkeit nicht gefasst. Sie faltete ihre Hände im Schoss und musste all ihre Willenskraft aufwenden, dass sie sich angesichts von Maxens Kälte und Damiens schonungsloser Offenheit nicht ineinander klammerten. Es galt, sich auf den Augenblick zu konzentrieren. Ihre Wunden konnte sie später lecken.
Ach bin kein Möbelstück, das man nach Lust und Laune hin und her schieben kann«, erwiderte sie vorsichtig. Sie musste überzeugend klingen. Sie musste ihre Rolle gut spielen. »Ich bin nicht entehrt worden und habe auch nicht die Absicht, mich so zu verhalten, als ob dies der Fall sei.«
»Doch, das bist du«, entgegnete Damien. »In den Augen der Gesellschaft bist du ruiniert. Kein anständiges Haus in ganz England wird dich empfangen, es sei denn, du heiratest.«
»Und nur aus dem Grunde zu heiraten, um die Gesellschaft zu beruhigen, ist nicht anstößig?« fragte sie.
»Wir debattieren hier nicht die Ungerechtigkeiten der Zivilisation, Jillian«, knurrte Damien. »Wir unterhalten uns darüber, was getan werden muss, damit dein Platz in der Gesellschaft gesichert ist.«
»Es ist mir egal, was. die Gesellschaft denkt oder sagt.«
»Es wird dir nicht mehr egal sein«, antwortete Max ruhig, »wenn du von jeder Gästeliste gestrichen wirst und die Leute auf die andere Straßenseite wechseln, um dir aus dem Weg zu gehen. Es wird dir nicht mehr egal sein, wenn die Damen dich anstarren und hinter ihren Fächern über dich tuscheln.« Er verstummte mit einer ungeduldigen Geste und blickte sie an. »Deine Reputation ist zerstört, Jillian.«
Sie nahm seine Worte in sich auf.
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